10. Januar 2017 Rosa la Manishe

«Darum lasst uns alles wagen...»

Schon die Anwesenheit von Geflüchteten ist für Vorstellungen von Nationalstaat und Bürgerschaft gefährlich. Ihre Stimme wird deshalb ungern gehört – umso wichtiger, dass sie laut ist. Ein Versuch, die migrantischen Kämpfe um Anerkennung im «demokratischen» Diskurs und die Bedeutung von Projekten wie der Papierlosen Zeitung zu begreifen.

Es ist schon oft versucht worden, eine kluge Antwort auf die Frage zu finden, welche Rolle die Medien in der Demokratie spielen: Sie sollen möglichst sachlich über das öffentliche Geschehen in einer Gesellschaft informieren und dazu verhelfen, die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhänge zu verstehen. Auf dieser Grundlage sollen sich die Bürger*innen eine Meinung darüber bilden, wie sie sich im politischen Diskurs einbringen wollen, also wie sie zusammenleben wollen. Davon soll dieser Text nicht handeln. Vielmehr möchte ich bei einer Frage ansetzen, die bei solchen Diskussionen gerne aussen vor gelassen wird, nämlich der Frage, wer denn Teil dieses demokratischen Miteinanders ist, wer also nicht nur die Macht hat, seine Stimme zu erheben und seine Interessen zur Sprache zu bringen, sondern wem in diesem Prozess auch zugehört wird. Inzwischen ist deutlich geworden, dass der Diskurs über Geflüchtete – so präsent er auch ist – nur unter der Bedingung des Ausschlusses der Geflüchteten selbst geführt wird. Ich denke, dass dieser Ausschluss kein Versehen ist. Wenn der Nationalstaat seine Grenze und vor allem seine Legitimität immerzu über Fingerabdrücke in Auffangzentren, Buchstabenbürokratie auf Migrationsämtern und Soldat*innen an der Staatsgrenze reproduzieren muss, hat die Exklusion System.

Staat – Nation – Bürgerschaft

Natürlich benötigt jede Gemeinschaft bestimmte Praktiken und Prinzipien, um über ihre Zugehörigkeit zu bestimmen. Das zieht auch den Bedarf einer Abgrenzung nach sich: So und so definierte Grenzen definieren die einen als Mitglieder der community, die anderen als Fremde. So reglementiert beispielsweise die Abstammung die Zugehörigkeit zu einer Familie, der Jahrgang jene zu einer Schulstufe, aber auch das Hobby die Partizipation in einem Verein und das Teilen gewisser Werte und Ideale in Parteien und Bewegungen. Nationen bestimmen sich durch eine Vorstellung von Zusammengehörigkeit, die sie aus einer gemeinsamen Geschichte, Religion, Kultur und Sprache sowie einem gemeinsamen Territorium speisen. Dadurch entstanden die Kategorien Bürger*in und Nichtbürger*in, ganz unabhängig davon, ob die Bürger*innen tatsächlich so homogen sind, wie diese Idee unterstellt.

Der Staat hat gemäss seiner jeweiligen Verfassung die Aufgabe, die Bürger*innen zu schützen und ihre Rechte zu garantieren.1 Hintergrund dessen ist die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, die 1789 im Zuge der Französischen Revolution verkündet wurde: Die Bürgerschaft wurde damit als Hauptkategorie eingeführt, um die Zugehörigkeit zum Nationalstaat zu regeln. Der Umkehrschluss davon ist umso heimtückischer: Wer seine Staatsangehörigkeit verliert, verliert damit auch jegliche Bürgerrechte und den Schutz des Staates. Die Philosophin Hannah Arendt ging noch einen Schritt weiter: Sie war der Auffassung, dass mit dem Verlust der Staatsangehörigkeit gar der Verlust jeglicher Rechte einschliesslich der Menschenrechte einhergeht, denn Menschen- und Bürgerrechte sind seit den bürgerlichen Revolutionen der Moderne voneinander nicht mehr trennbar.

Zu den zentralsten dieser Rechte, die ich hier nennen möchte, gehören das Recht auf Freiheit und Sicherheit, die Meinungs- und Glaubensfreiheit sowie das Recht, an der Formung der Verfassung respektive des Gesetzes mitzuwirken.

Diese Rechte mögen zwar grundlegend sein, aber sie sind eben an den Status als Bürger*innen geknüpft. Die Teilnahme am politischen Diskurs ist somit an den Besitz der richtigen Papiere geknüpft, so wie überhaupt der Besitz und die Garantie von Rechten an die Staatsbürgerschaft gebunden sind. Es ist zur Binsenwahrheit geworden: Wer nicht die richtigen Papiere hat, lebt in einem Raum der faktischen Rechtslosigkeit. Diese Menschen sind nicht frei, sie leben unter äusserst prekären Umständen und kennen kaum stabile Gefässe, in denen ihre Meinung Geltung finden könnte.

Der Ausschluss aus dem «demokratischen» Diskurs

Die Verbindung von Nationalstaat, Bürgerschaft und Territorium (Grenze) ist eine hegemoniale. Sie hat oberste Gültigkeit, obwohl ihre Bestandteile und die ihnen unterstellte Homogenität ein Konstrukt sind und immer waren. Gerade weil sie keine objektive Wahrheit sind, sondern eine Ideologie, sind sie darauf angewiesen, über feine Mechanismen von einer Vielzahl von Menschen reproduziert zu werden. Die Autoren Hardt und Negri nannten diese Gruppe von Menschen die „Multitude“. Die Macht des Staates ist also nur eine scheinbare: Sie kann jederzeit von der Multitude verworfen werden.

In dieses Szenario, in dem der Staat eigentlich ein fragiles Gebilde ist, treten nun Subjekte, die vom Land ihrer Geburt, ihrer Nation und der dadurch definierten Gemeinschaft getrennt sind und die gemeinte Homogenität aufbrechen: refugees. Allein mit der Grenzüberschreitung und mit ihrer Anwesenheit in der Gesellschaft setzen sie ein grosses Fragezeichen hinter die «natürliche» Sesshaftigkeit von Staatsbürger*innen; sie erzählen andere Geschichten, Geschichten der Bewegung. Weil aber der Ausgangspunkt aller Überlegungen der Nationalstaat und die Bürgerschaft sind, ist die Figur der refugees zweitrangig. Geflüchtete weichen von der Norm der Bürger*innen ab und werden deshalb durchwegs als mangelhaft konstruiert: Ihnen mangelt es nicht nur an einem sicheren Zuhause und einer sicheren soziokulturellen Zugehörigkeit, sondern auch an einer Bindung zu einem Staat.

Der Diskurs über Geflüchtete verläuft aus diesem Grund zumeist in zwei Richtungen: Entweder sind sie Opfer von Krieg und Elend, von Geschehnissen also, für die sie nichts können, und bedürfen der Hilfe und der Barmherzigkeit. Oder sie stellen als Neuankömmlinge eine Gefahr für den Wohlstand der als organisch und stabil betrachteten Gemeinschaft dar. In beiden Fällen aber werden sie für unfähig erklärt, als aktive und intelligente Subjekte zu agieren. Und das hängt damit zusammen, dass sie die elementaren Annahmen des Zusammenlebens – wie der Nationalstaat und der Primat der Bürgerschaft dies sind – grundlegend infrage stellen. Die Sprachlosigkeit der Geflüchteten im «demokratischen» Diskurs ergibt genau hier Sinn. Für ein derart artifizielles Gebilde wie den Nationalstaat und die darauf begründete Identität sind solche Fragen gefährlich. Deshalb werden Geflüchtete stummgeschaltet, ihre Handlungen und ihre Anwesenheit kriminalisiert.

Storytelling als politischer Akt

Aber das Politische ist nicht auf ein schon definiertes Territorium und seine «legalen» Subjekte beschränkt, sondern geht immer darüber hinaus. Menschen, deren Rechte systematisch beschnitten werden, können, sollen, müssen deshalb ihre Stimme erheben. Damit rückt die migrantische Selbstorganisation in den Fokus, denn wem das Sprachrohr nicht von Anfang an zur Verfügung gestellt wird, entwirft selber ein solches und kommt damit einem wirklich demokratischen Gedanken nach. Projekte wie die Papierlose Zeitung zeugen davon, wie diese Autonomie aussehen kann. Hier wird Storytelling zum politischen Akt, zu einem Werkzeug, um mit anderen Geschichten andere Perspektiven aufzuzeigen. Um Einblicke zu geben und Meinungen zu ändern.

Wir sind der Überzeugung, dass dem Diskurs über Geflüchteten ein Gegengewicht von Geflüchteten gegenübergestellt werden muss. Deshalb berichten wir hier von alltäglichen rassistischen Erfahrungen, schildern Härtefall- und Asylpolitiken, beanstanden das Heiratsverbot für Sans Papiers, erzählen von der Angst vor Polizeischikanen und schreiben Fluchtgeschichten nieder. Wir veröffentlichen Briefe aus den Ausschaffungsgefängnissen, formulieren Kritiken an der Sozialfirma Ors und schaffen Raum für Eindrücke aus Calais, Syrien, Äthiopien, Afghanistan, Belutschistan. Krieg und Ausbeutung und der Terror der Bürokratie, aber auch Träume und die Hoffnung auf eine Welt für alle: Das sind die Themen, welche die Schreibenden dieser Zeitung bewegen. Das hier Erzählte ist geprägt von Wut und Schmerz und manchmal von einer Portion Ironie, aber ebenso von Mut, Stärke und Autonomie. Damit ist sie Sinnbild für die ASZ: Sie bildet einen Teil des Kampfes ab, der an diesem Ort jeden Tag geführt wird, eines Kampfes für Solidarität, Liebe und Anerkennung.

1) Das sagt indes nichts darüber aus, inwiefern der Staat dieser Aufgabe auch nachkommt. Wie mich ein Freund vor Publikation dieses Artikels darauf hinwies (und dafür meinen besten Dank), stimmt es nur auf formaler Ebene, dass Menschen z.B. mit einem Schweizer Pass dieselben Rechte haben. In Tat und Wahrheit verlaufen aber auch innerhalb der mit Papieren ausgestatteten Bevölkerung tiefe (Klassen-)Gräben, sodass ihre Privilegierung gegenüber Sans Papiers nur als relatives Verhältnis gesehen werden darf.

Literatur für Interessierte:

  • Tanya Basok und Suzan Ilcan (2013): Citizenship and Transnational Struggles.
  • Shahram Khosravi (2007): The ‚illegal‘ traveller: an auto-ethnography of borders.
  • Nevzat Soguk (1999): States and Strangers. Refugees and Displacements of Statecraft.
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