30. Mai 2025 Sarkis Kassargian
(Aufgezeichnet von Hüseyin Edemir, übersetzt von Çağdaş Akkaya)
Mein Name ist Sarkis Kassargian. Ich stamme aus einer armenisch- christlichen Familie und bin Journalist; ich habe mich auf den Kaukasus und die Türkei spezialisiert, aber natürlich interessiere ich mich auch für mein eigenes Land Syrien. Ich habe für verschiedene grosse Medienorganisationen gearbeitet, Dokumentarfilme erstellt und Kolumnen geschrieben.
Um zu verstehen, was in Syrien vor sich geht, müssen wir die Ereignisse der Reihe nach betrachten. Als der Diktator Assad gestürzt wurde, waren einige Menschen glücklich. Andere wiederum waren traurig und besorgt – nicht, weil sie Assad liebten, sondern weil sie befürchteten, dass seine Nachfolge schlimmer sein würde als er. Gefreut haben sich die Anti-Assad- Gruppen, welche die islamistische Miliz Hayat Tahrir al- Sham (HTS) unterstützen.
Alles begann mit den Protesten gegen Assad
Ich verliess Syrien, nachdem die HTS an die Macht gekommen war. Als im Jahr 2011 die Proteste begannen, waren wir alle auf der Strasse und hofften auf eine Revolution. Ich war schon seit meiner Studienzeit ein kritisch denkender Mensch und nahm aktiv an den Protesten gegen das Assad-Regime teil. Die Menschen wollten Veränderung und Demokratie. Unser Ziel war es, die Regierung mit friedlichen Mitteln zu verändern und in einem demokratischen Land zu leben. Als nach einiger Zeit dschihadistische Gruppen auf den Plan traten, wurde zu den Waffen gegriffen. Dschihadist:innen aus vielen verschiedenen Ländern strömten nach Syrien.
In der Folge blieb vielen Intellektuellen, Künstler:innen, Christ:innen, Alawit:innen, Drus:innen und Ismailit:innen des Landes kaum eine andere Wahl, als Assad erneut zu unterstützen. Denn das Leben unter dem baathistischen Regime von Assad war für sie weniger gefährlich als das Leben unter dschihadistischer Herrschaft. Aber Kurd:innen und Turkmen:innen wurden vom Regime ausgeschlossen. Diese Bevölkerungsgruppen wurden aufgrund ihrer Sprache und ethnischen Identität diskriminiert. Assad ist alawitischer Herkunft, doch die Mehrheit der Bevölkerung gehört den Sunnit:innen an. Dabei handelt es sich nicht um radikale Sunnit: innen. Die meisten sind tolerant gegenüber anderen Glaubensrichtungen und orientieren sich an den Sufi-Traditionen.
Warum mussten die Alawit:innen Assad unterstützen?
Obwohl nur wenige Alawit:innen vom System profitierten, waren sie gezwungen, Assad zu unterstützen. Dabei war es sein Regime, das sie in die Situation von Armut und Abhängigkeit gebracht hatte. Jahrelang brachte die Regierung keine Elektrizität in die alawitischen Dörfer und erlaubte ihnen nicht, in bestimmten Berufsfeldern tätig zu sein. Einzig als Behördenangestellte oder einfache Soldaten in der Armee wurden sie angestellt – viele von ihnen arbeiteten im militärischen Geheimdienst. In der Verwaltung waren jedoch nicht nur Alawit:innen, sondern auch Kurd:innen, Christ:innen und Vertreter: innen anderer Gruppen beschäftigt.
Mit Kriegsbeginn betraten die Grossmächte das Feld
Als der Krieg ausbrach, traten nicht nur die Dschihadisten, sondern auch die Grossmächte hervor. Jeder begann, seine eigene Seite zu unterstützen. Während die westlichen Mächte und die USA die HTS unterstützten, stellten sich Russland und der Iran auf die Seite des Assad-Regimes.
In den 13 Jahren des Krieges gab es Vertreibungen, Massaker und gegenseitiges Abschlachten. Das syrische Volk hat unvorstellbar viel gelitten. Millionen von Menschen flohen ins Ausland; Europa öffnete seine Türen teilweise und gab vielen Asyl. In dieser Zeit migrierte fast die Hälfte der christlichen Bevölkerung in andere Länder. Im Jahr 2015 erklärte das baathistische Regime Assads den Sieg. Die Dschihadisten wurden nach Idlib an der türkischen Grenze zurückgedrängt, und das Leben in den übrigen Regionen begann sich zu normalisieren.
In der Zwischenzeit dominierten die Kurd:innen den Nordosten Syriens. Bei den dortigen Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) kämpften zwar auch Araber: innen und andere Völker mit, aber da der Hauptanteil kurdisch war, wird diese Region oft als «von Kurd:innen kontrolliert» bezeichnet.
Wirtschaft kollabiert, Assad bleibt untätig
Nach dem Ende des Krieges erwarteten wir, dass Assad das Land öffnen und mit dem Westen in Kontakt treten würde und die Sanktionen aufgehoben würden. Doch Assad dachte, er habe gewonnen und tat nichts.
Inzwischen war die syrische Wirtschaft völlig zusammengebrochen. Die Löhne waren gesunken: Ein Facharzt hatte ein Einkommen von 35 Dollar, ein Armeesoldat 14 bis 15 Dollar pro Monat. Die industrielle Wirtschaft war zum Stillstand gekommen: Die von den SDF kontrollierten Ölgebiete wurden stillgelegt und der Handel eingestellt. Korruption wurde Alltag: Bestechung war allgegenwärtig, sogar in den staatlichen Ämtern. Es war unmöglich, etwas zu erledigen, ohne jemanden bestechen zu müssen.
Die Machtübernahme der HTS und neue Vereinbarungen
Im Dezember 2024 rückten die HTS-Dschihadisten innerhalb weniger Tage von Aleppo aus nach Süden vor, erreichten Damaskus und übernahmen mit der Unterschrift des Premierministers der früheren Regierung offiziell die Macht im Staat. Nachdem Ahmed al-Scharaa, auch bekannt unter dem Namen Muhammad al-Dscholani, an die Macht gekommen war, wurden keine Wahlen durchgeführt. Das Land hat nicht einmal mehr eine Verfassung (kurz nach der Aufzeichnung dieses Beitrags hat Scharaa eine Übergangsverfassung unterzeichnet, die aber von verschiedenen Seiten kritisiert wird; Anm. d. Red.). Da es sich bei der HTS um einen Zusammenschluss verschiedener dschihadistischer Gruppen handelt, versammelten sich die Anführer und wählten den Kriegsherr Dscholani zum Präsidenten. Am 10. März 2025 unterzeichneten der SDF-Führer Mazlum Abdi und der HTS-Führer Dscholani ein Abkommen. Diesem Abkommen zufolge werden die SDF-Kräfte in die syrische Armee integriert und die Zukunft des Landes wird gemeinsam aufgebaut. Das wollen wir zumindest hoffen.
Genozid an Alawit:innen Vom 7. März 2025 bis zum Zeitpunkt der Aufzeichnung dieses Artikels, dem 11. März 2025, ist ein Massaker der Alawit:innen im Gange. Ich weiss nicht, welchen Begriff ich dafür verwenden soll: Genozid? Ethnische Säuberung? Massenmord? Aber was hier geschieht, zielt eindeutig auf die systematische Ausrottung der Alawit:innen ab.
Die Ideologie der Dschihadisten beruht auf einer Fatwa aus dem 13. Jahrhundert, die Alawit:innen als «abtrünnig» definiert. Abtrünnige sind Personen, deren Reue nicht akzeptiert wird und deren Tötung eine religiöse Pflicht ist. Im alten Sprachgebrauch bedeutet dies: «Sein Tod ist Pflicht, sein Besitz und seine Ehre sind zu vereinnahmen» – wenn du also einen Mann tötest, gehören seine Frau und sein Eigentum dir. Diese Definition der Abtrünnigen schliesst Alawit:innen, Ismailit:innen, Schiit:innen, Jesid:innen und Drus:innen ein – alles Gruppen, die im Vielvölkerstaat Syrien leben. Es war also klar, dass die Alawit:innen zur Zielscheibe werden würden.
Es ist wichtig zu rekapitulieren, wie die Ereignisse ihren Anfang nahmen. Nachdem die HTS an die Macht gekommen war, begann unvermittelt die Unterdrückung der Alawit:innen. Kaum jemand nannte sie mehr bei ihrem Namen. Sie wurden als «Hunde» oder «Schweine» bezeichnet. In den Dörfern, Städten und Quartieren, in die HTS-Kämpfer eindrangen, sammelten sie Männer ein und schleiften sie den Boden entlang. Sie zwangen einige, wie Hunde zu bellen, und einige «Ich bin ein Schwein» zu rufen – vor den Augen der Frauen und Kinder der Männer. Die HTS-Kämpfer entehrten sie. Dann begannen sie, alawitische Dörfer, vor allem auf dem Land, systematisch zu plündern. Die Menschen, die sich widersetzten, wurden getötet.
Der Druck wurde unerträglich. Eines Tages griff eine Gruppe von Alawit:innen einen Militärkonvoi an, nachdem ein Kind gewaltsam aus einem Dorf entführt werden sollte. Dieser Angriff wurde zum Vorwand für die HTS. Alle ihre Kämpfer strömten in das Küstengebiet, in dem die Alawit:innen leben. Religiöse Autoritäten riefen in Moscheen und auf den Strassen den Dschihad gegen die Alawit:innen aus. So reisten sowohl HTS-nahe bewaffnete Kräfte als auch zivile bewaffnete Gruppen in die Region, um Alawit:innen zu töten.
Die Vorgehensweise der Kämpfer zeigt: Die Massaker waren im Voraus geplant und wurden systematisch durchgeführt. Die Polizisten, die für die Sicherheit zuständig waren, sagten den Menschen: «Habt keine Angst, wir sind hier, ihr seid sicher.» Nachdem sie dann aber trotzdem gegangen waren, kamen militante Dschihadisten und nahmen das Geld, das Gold und die Wertsachen der Menschen mit. Wer sich wehrte, wurde verprügelt oder getötet. Dann kamen andere Gruppen und sammelten die Menschen, vor allem die Männer, ein und massakrierten sie. Um zu belegen, dass es sich bei den Betroffenen um Überbleibsel des Regimes oder um Pro-Assad-Anhänger handelte, schoben sie ihnen die Waffen unter und machten Fotos. Manchmal steckten sie die Leichen von Zivilisten im Nachhinein sogar in Militäruniformen.
Am 8. März 2025, dem Internationalen Frauentag, wurden Dutzende von Frauen getötet. Am 10. März entsandte die UNO Beobachter: innen in die Region. Gemäss der Delegation der Vereinten Nationen geht die Zahl der toten Zivilist:innen in die Tausende. In einigen Dörfern wurden ganze Familien, auch Kinder und Frauen, massenhaft hingerichtet. Ich habe den Krieg lange Jahre beobachtet, trotzdem war das Entsetzen in mir gross.
Eines der ungeheuersten Ereignisse war für mich, als die Menschen in der Kleinstadt Jdeitet al-Fadl auf die Strasse gingen und für die Vernichtung der Alawit: innen demonstrierten. In all meinen Jahren als Journalist habe ich so etwas noch nie gesehen. Einige Geflüchtete in europäischen und anderen Ländern veröffentlichten Videos und machten in den sozialen Medien ähnliche Aufrufe. Dieser Hass sollte nicht normalisiert und unbedingt ergründet werden.
Letztendlich kann ich Folgendes sagen: Leider ist das Böse gegangen und das noch viel Bösere gekommen. Syrien ist weit von Frieden und Ruhe entfernt. Um ehrlich zu sein: Ich spüre keine Hoffnung mehr. Hinweis Die Analyse von Sarkis Kassargian wurde Anfang März 2025 aufgezeichnet und bildet den Stand der Dinge gut drei Monate nach dem Sturz von Assad ab.
Hinweis
Die Analyse von Sarkis Kassargian wurde Anfang März 2025 aufgezeichnet und bildet den Stand der Dinge gut drei Monate nach dem Sturz von Assad ab.