5. November 2025 Hüseyin Edemir

Das Testament der Kinder

Eine seltsame Stille herrscht über der syrischen Stadt Homs. Dann klingelt das Telefon. Und plötzlich muss es schnell gehen. 

Es war eine Winternacht ohne Zauber, ohne Lachen und ohne Schnee. Es gab keinen Strom, kein Licht, keine Geräusche. In Homs war es ungewöhnlich kalt, trotz kriegerischer Zeiten herrschte eine unruhige Todesstille und eine tiefe Sorge in meinem Herzen. Ich lag im Bett im tiefdunklen Zimmer und tat so, als ob ich schlafen würde, damit ich meine Frau nicht störte. Doch mein Kopf war wach – voller Sorgen. Plötzlich tauchte ich in die Traumwelt ein.

Ich hörte ein altes Lied. Wie immer aktivierte Musik eine innere Energie und weckte ein Wohlgefühl in mir. Meine Mama, in deren Tasche Süssigkeiten für die Kinder waren, brachte mir Glücksgefühle, begleitet vom Geräusch ihres fröhlichen Lachens. Mein Papagei aus der Kindheit, das Weihnachtsessen zum Jahrtausendwechsel, ein Wasserfall, überall Pistazien-, Oliven- und Granatapfelbäume sowie Blumen aller Art und Farben. Und mein Sohn, ein fünfjähriger Junge.

Die Szene veränderte sich plötzlich – von Glück zu Trauer. Mein Sohn blieb immer fünf Jahre alt. Er kam nach dem Krieg zur Welt und verschwand, bevor der Frieden kam. Ich weinte, aber meine Tränen flossen innerlich.

Ich wachte auf, als mein Telefon klingelte. Es war mein Geschäftspartner, Jugendfreund und bester Kumpel Hasan. Ich schaute auf den Bildschirm, es war fast vier Uhr. Ich stieg aus dem Bett, ging ins Wohnzimmer und nahm den Anruf entgegen. «Ich brauche dringend ein Auto», sagte Hasan. Er weinte. «Okay», sagte ich und legte auf. Hasans Mutter war sehr krank. Als ich mich anzog, fragte mich meine Frau, was passiert sei. Ich sagte nur: «Mami Maryam.» Und sie antwortete: «Gott helfe ihr.»

Als ich mit meinem Transporter bereits ein Stück gefahren war, herrschte auf den Strassen, die um diese Zeit eigentlich ruhig und verlassen sein sollten, ein seltsames Treiben. Nach etwa zehn Minuten hielt ich vor Hasans Haus. Die Haustür öffnete sich und die ganze Familie eilte zum Auto. Hasan trug seine Mutter auf dem Rücken. Angst, Panik, Eile … «Fahr», rief Hasan, während er Mama Maryam auf den Sitz setzte. Ich fuhr los and erblickte im Spiegel seine Augen. «Sie kommen», sagte er. «Alles ist umstellt. Wir müssen dringend zur libanesischen Grenze.» – «Wer kommt?», fragte ich, obwohl ich die Antwort schon ahnte. «Dschihadisten», antwortete er. Die sechsjährigen Zwillinge – ein Mädchen und ein Junge – weinten. Hasans Frau Zeynep versuchte, sie zu beruhigen. Ich beschleunigte das Auto. Wenn nichts dazwischenkam, würden wir die Grenze in einer Stunde erreichen.

Auf den Strassen hatten die Plünderungen begonnen. Als wir am Laden von Abdullah, der Stoffe und Textilmaschinen verkaufte, vorbeifuhren, sah ich an der Wand in grossen Buchstaben das Wort «Sunnit» geschrieben. Ich bekam Angst. Mein Hals war wie zugeschnürt, ich konnte nicht schlucken.

Ein Stück weiter erblickte ich ein brennendes Haus und hörte Schreie. Es fühlte sich an, als würde ich zum letzten Mal dieses Auto fahren, zum letzten Mal diese Stadt sehen, zum letzten Mal mit Hasan und seiner Familie unterwegs sein.

«Wir fahren zu uns», schlug ich vor. «Wir holen bei Youssef Baba ein Dokument, das bestätigt, dass ihr Christen seid. Ihr könnt sogar bei ihm übernachten.»

Als wir die Stadt verliessen, bemerkte ich am Horizont grosse schwarze Rauchwolken, die wie ein schlechtes Omen in den Himmel stiegen. Als ich das Ortschild sah und langsamer fuhr, zog Hasan einen Brief aus seiner Tasche und reichte ihn mir: «Ich habe ihn für dich geschrieben.»

Nachdem ich das Auto angehalten hatte, kam ein junger Mann mit langem Bart und ohne Schnurrbart ans Fenster und sagte: «Fenster runter – alle aussteigen, wir machen eine Durchsuchung!»

«Wir haben eine kranke Person dabei», sagte ich. «Dann soll die kranke Person auch aussteigen », antwortete der junge Mann. Die Männer, die uns kontrollierten, stellten uns nebeneinander auf und begannen mit der Befragung. «Ist einer von euch Alawit?», fragte einer. Schnell antwortete ich: «Nein, wir sind alle Christen, wir glauben an den Messias, an Jesus.»

Ich schaute zu den Kindern – und erwartete, dass sie weinen würden, aber sie standen ganz still und emotionslos da. Hasan stützte seine Mutter, damit sie stehen konnte. Dann schaute ich zu Zeynep – ihr Blick war auf die Kinder gerichtet. Die längsten Sekunden meines Lebens vergingen, und ich wünschte mir in diesem Moment ein gewaltiges Erdbeben, das uns alle vernichten würde – die ganze Welt.

Das hier ist keine Fiktion. Nein, es ist kein Film, der ein gutes Ende nimmt.

Die Männer glaubten mir nicht. Sie schlugen mich und trennten mich von der Familie. Dann zogen sie mich gewaltsam zu meinem Auto zurück, setzten mich hinein und befahlen: «Verschwinde! » – «Gebt mir wenigstens die Kinder!», rief ich. In diesem Moment schlug mir einer mit der Faust mitten auf die Stirn. «Jetzt bist du noch nicht dran», sagte er. Meine Zeit werde später kommen. «Hau ab!», schrien die Männer.

Ich gehorchte und fuhr schliesslich voller Angst und Traurigkeit nach Hause. In den Sozialen Medien wurde darüber gesprochen, dass der Dschihad gegen Alawit: innen ausgerufen wurde. Ich schaute eine Weile lang Nachrichten. Neun Tage nach dem Vorfall holte ich Hasans Brief hervor. Ich öffnete den Umschlag und begann zu lesen.

«Mein Name ist Fatma. Ich bin sechs Jahre alt. Ich liebe bunte Nudeln und ich liebe es zu malen. Wenn ich gross bin, möchte ich Tierärztin werden und verletzte Tiere heilen.»

«Mein Name ist Ammar. Am liebsten mag ich Eis. Wenn ich gross bin, werde ich Astronaut sein und Sterne vom Himmel sammeln.»

Während ich las, klingelte mein Handy. Einer meiner Freunde war am Apparat und sprach: «Mein lieber Bruder Ishak, leider wurden alle getötet. Möge der Allmächtige Gott sie zu sich nehmen.» 

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