31. Oktober 2025 Ivan Prijic

Deshalb bin ich Märchenforscher

Als die Bomben fielen, schrieb er Fabeln. Die bewegte Geschichte eines Künstlers und Autors. 

(Aufgezeichnet von Nina Kunz)

Mein Vater kommt aus Russland, aufgewachsen bin ich in Jugoslawien. Mein Dorf würde im heutigen Kroatien liegen, aber leider gibt es den Ort nicht mehr. Alle Menschen sind geflüchtet oder wurden getötet. Als Kind lebte ich auf einem Bauernhof, später habe ich in Belgrad jugoslawische Literatur studiert. Die Fakultät wollte mich behalten, aber ich wollte nach dem Studium als Lehrer arbeiten. Was ich dann auch tat – in Montenegro.

1978 war ich mit dem Militärdienst fertig. Als Soldat war ich bei der Artillerie. Das hat mir aber nicht gefallen, denn ich war ein Poet und diese Offiziere, die herumschrien, waren mir nicht sympathisch. 1979 flüchtete ich zum ersten Mal nach Paris. Eigentlich wollte ich nach Amerika, aber ich hatte kein Geld. Mit viel Glück durfte ich in Paris gratis in einem Hotelzimmer wohnen, aber ich hungerte monatelang. Ich hatte wirklich gar kein Geld und fand auch keine Arbeit. In diesem Hotelzimmer habe ich viel geschwiegen und nachgedacht. Ich lebte ein bisschen wie ein buddhistischer Mönch.

Als ich wieder zurückging und zu meinen Eltern zog, waren sie schockiert, weil ich nur noch Haut und Knochen war. Sie gaben mir Essen und päppelten mich wieder auf. Anschliessend konnte ich wieder als Lehrer und Journalist arbeiten. Zuerst in Bosnien, dann in Zagreb.

Ich spreche auch Russisch, Französisch, Deutsch, Kroatisch, Mazedonisch, Polnisch und Slowenisch. Die Sprache, die Literatur und die Linguistik interessieren mich sehr.

1972 – da war ich 19 Jahre alt – hatte ich in Belgrad mein erstes Buch mit Gedichten veröffentlicht. Das Schreiben von Gedichten ist für mich eine Katharsis.

1987 flüchtete ich dann erneut nach Paris und zeigte einem Professor an der Sorbonne ein Gedicht von mir. Es hiess «Der schlechteste Mensch». Er fand es so gut, dass er sagte: Du kannst bei mir studieren. Jetzt hatte ich etwas Geld und studierte unter anderem das Werk von Marcel Proust und griechische Tragödie. Ich interessierte mich aber auch für Husserl und Heidegger. Wenn es ums Lernen geht, bin ich etwas fanatisch.

1990 begann dann der Krieg in Jugoslawien. Ich ging zurück. Und als die Kanonen donnerten, schrieb ich Märchen und Fabeln. Über Tiger und Löwen, Bären und Krähen. Niemand wollte mich in der Armee. Ich war weder Serbe noch Kroate. Sie hielten mich für einen Kosmopoliten, der Gedichte schreibt. 1993 landete ich in Kroatien im Gefängnis. Mir wurde vorgeworfen, ein Spion zu sein. Ich wurde geschlagen und beinahe getötet. Es war schrecklich. 1995 wurden dann meine Frau und ich von der Schweiz als Geflüchtete anerkannt.

Deutsch ist, finde ich, keine einfache Sprache. Aber ich liebe diese Kultur: Goethe, die Gebrüder Grimm … Es freut mich, diese Märchen jetzt im Original lesen zu können. Denn ich sammle schon mein ganzes Leben lang Märchen aus der ganzen Welt. Ich kenne Geschichten aus Indien, China, Südamerika. Märchen repräsentieren für mich alle Wünsche und das Unterbewusstsein der Menschen. Deshalb bin ich auch eine Art Märchenforscher. Und deshalb schreibe ich Fabeln. Ausserdem habe ich einen Roman über mein Leben geschrieben. Er trägt den Titel «Les années folles». Noch suche ich nach einem Verlag. Wenn Sie einen Tipp haben, melden Sie sich gerne!

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