5. Juni 2017 Ronan Ahmad

Die Bilder im Kopf

Alltag in der ASZ: Eine Fotodokumentation von Milad Ahmadvand und Milad Perego

Im Zusammenleben ganz verschiedener Menschen ergeben sich unvermeidlich Missverständnisse. Aber man kann sie überwinden - wenn man die festen Bilder im eigenen Kopf hinterfragt.

Jeder Mensch trägt seinen eigenen Ruck­sack mit Gedanken und Gefühlen, Über­legungen und Meinungen über die Welt und über andere Menschen mit sich. In der Autonomen Schule treffen sehr viele Menschen mit unterschiedlichen Hinter­gründen aufeinander. Sie kommen aus verschiedenen Kulturen und Ländern. Unwillkürlich fühlt man sich mit Men­schen der gleichen Herkunft stärker ver­bunden als mit jemand anderem.

Das zeigt sich auch beim Abendessen im Café der ASZ: Hier sitzen die kurdischen Leute, da die eritreischen Leute, hier jene aus Syrien und nebenan diejenigen aus Algerien und Tunesien. Aber es gibt auch Tische, an denen Menschen unterschiedlicher Her­kunft zusammensitzen. Zugleich finden viele Begegnungen von Einzelpersonen und Gruppen statt. Normalerweise ver­laufen diese gut, aber es ist nicht so, dass wir gar keine Konflikte hätten, denn die Meinungen und Kulturen sind unter­schiedlich.

Ein gutes Beispiel sind zwei meiner Freunde. Beide sind Muslime. Beide sind Geflüchtete. Einer kommt aus Westafrika und einer aus dem arabisch geprägten Nordafrika. Nun ist es so, dass Westafrika vor Jahrhunderten von muslimischen Völ­kern aus Arabien besetzt und islamisiert wurde. Das Bild einer fremden Eroberung ist immer noch in den Köpfen der west­afrikanischen Menschen. Deshalb hatten die beiden früher, bevor sie gute Freunde wurden, oft Konflikte. Der eine sprach laut und stellte sich unabsichtlich stets zuvorderst hin, in eine «mächtige» Posi­tion. Das rief im Gedächtnis des anderen automatisch Erinnerungen an die Ernied­rigung des eigenen Volkes hervor: Die anderen sind zu uns gekommen, sie sind mächtiger als wir, sie haben uns unter­drückt - obwohl das schon längst Vergan­genheit ist und mit der Beziehung der beiden Freunde eigentlich nichts zu tun hat. Aufgrund dessen braucht es Zeit, bis man einander versteht. Nun sind die bei­den gute Freunde geworden.

Solche Missverständnisse können sich bei allen Menschen ereignen, die einen his­torischen Konflikt haben. Im Selbstver­ständnis von Gruppen wirken solche Geschichten bewusst und unbewusst fort. Dabei werden Meinungen und Kommentare wild zusammengewürfelt. Dies kann für Schweiz er*innen sehr verwirrend sein. Gerade deshalb sind das Gespräch und ein respektvoller Umgang miteinan­der so wichtig. Es sollte immer darum gehen, miteinander zu sprechen und ein­ander zu verstehen. In der ASZ gehen wir nicht gewalttätig mit Konflikten um. Ist jemand gewalttätig, bekommt er oder sie ein Hausverbot. Jede*r erhält aber immer die Möglichkeit, sich zu entschuldigen und das eigene Verhalten zu ändern.

Der Fremde könnte dein Freund sein

Probleme entstehen dann, wenn Menschen schlechte Dinge über eine andere Person sagen, bevor sie sie richtig kennengelernt haben. Sie haben ihre Meinung schon ge­macht, bevor sie wissen, wer diese Men­schen sind und wie sie denken. Als Kurde und als Mensch mit muslimischem Hin­tergrund wurde ich schon verschiedent­lich mit Vorurteilen konfrontiert - das harmloseste ist wohl, dass viele Schwei­zer*innen annehmen, ich würde keinen Alkohol trinken.


In meinem Rucksack ist eine Weltkarte ohne Grenzen.


Auf der Basis von Vorurteilen ist ein gutes Zusammenleben schwierig. Deshalb ist es wichtig, sich von nationalistischen und religiösen Bildern und Vorurteilen zu lö­sen. Im Mittelpunkt steht immer der ein­zelne Mensch an sich. Seine Nationalität, Religion, Meinung oder Hautfarbe spielen keine Rolle. Das schliesst nicht aus, dass ich trotzdem - wie wir alle - eine Art Bild im Kopf habe. Aber ich bekämpfe die festen Bilder, die ich von der Welt habe, seit langem. Wenn wir diese Bilder nicht hinterfragen, werden sie stärker.

Es ist ganz normal, dass es seine Zeit dau­ert, bis man einer fremden Person vertraut. Denn die Angst vor allem Fremden ist real, ob man will oder nicht. Sie zu über­winden, ist ein Prozess. Überall auf der Welt bringen Eltern ihren Kindern bei, nicht mit Fremden nach Hause zu gehen. Ein Teil der Angst kommt durch diese Sozialisation. Erhält man nun eine Einladung von jemand Fremdem, ist der erste Reflex, sie abzulehnen. Allerdings könnten diese Personen auch deine Freund*innen sein, die dich zum Essen und Übernach­ten einladen. Im gemeinsamen Gespräch kann man vieles herausfinden.

Mein Rucksack

Um ehrlich und offen sprechen zu können, muss ich mir auch über meinen eigenen Rucksack an Gedanken und Meinungen klar werden. Obwohl ich selbst über viele verbotene Grenzen, über Stacheldraht und Minenfelder nach Europa gekommen bin, ist in meinem Rucksack eine Welt­karte ohne Grenzen. Als ich 20 Jahre alt war, sagte ich laut: Der Nationalismus ist eine Schande für die Menschheit. Ich forderte die Trennung von Religion und Staat. Es störte mich, dass die Moscheen ihre Predigt laut über die Dächer der ganzen Stadt erschallen liessen. Sogar Kinder mussten sie hören. Die Nationa­list*innen betrachteten mich als Verräter und die Fundamentalist*innen als Ab­trünnigen, der den Tod verdient.

So galt ich in meinem eigenen Land als fremd und verachtet. Aber auch in der Schweiz wurde ich in doppelter Hinsicht als Frem­der betrachtet: Zuerst einmal, weil ich ein Geflüchteter bin, und zweitens weil ich mit den Ideologien meiner Volksgruppe und meiner früheren Religion nicht ein­verstanden bin.

In meinem Rucksack trage ich aber auch die Überzeugung, dass Prostituierte Men­schen sind wie wir alle, würdiger als Po­litiker* innen. Während Politiker* innen Politik machen, passieren Kriege, die Menschen in Not und Armut treiben. Hin­ter Prostituierten stehen Bedürftige, die Nahrung, Medikamente und ein Dach über dem Kopf brauchen. Kinder, die Zu­wendung und Schulbildung brauchen. In meinem Rucksack ist auch die Haltung, dass Homosexuelle ganz normale Men­schen sind. Mich stört es, wenn gegen Homosexualität gehetzt wird, sei dies im Christentum oder bei den Muslim*innen. Ein Mann darf sich doch ein Loch in seine Nase stechen lassen, ohne dass er komisch angeschaut wird und er gefragt wird: Bist du eine Frau? (und das von einer feminis­tischen Aktivistin!).

In meinem Rucksack trage ich auch die Tränen, die aus meinen Augen gefallen sind, als Saddam Hussein gehenkt wurde. Nicht, weil er ein guter Mensch war - er hat mein Volk verfolgt und Tausenden Tod und Gift gebracht - sondern weil ich ge­gen Rache und Todesstrafe bin. Es könnte ja sein, dass er im Gefängnis über seine Taten nachdachte und seine Opfer von ganzem Herzen um Verzeihung bat. Dies würde die Verletzungen von Millionen von Menschen heilen.

In der Autonomen Schule werden diese Themen diskutiert. Der Kampf gegen Dis­kriminierung, Unterdrückung und Ras­sismus ist eine universale Sache und be­trifft alle Menschen. Denn jeder und jede muss ihn an seinem oder ihrem Platz führen.

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