4. August 2020 Azad Colemêrg

«Die Kurden gibt es nicht!»

Dies behauptete mein türkischer Professor, und alle Mitstudent*innen klatschten in die Hände. Wegen meiner Herkunft habe ich von klein auf und bis zu meiner Flucht ständig Rassismus und Diskriminierung erlebt.

Geboren bin ich in Kurdistan, in der Nähe von Hakkari, ganz im Osten der Türkei. Als ich zwei Jahre alt war, kam die türkische Armee in unser Dorf. Sie machten Feuer und brannten alles nieder. Meine Familie musste in die Stadt Hakkari flüchten. Als ich mit sechs Jahren in die Schule kam, konnte ich keine andere Sprache als Kurdisch. Meine Mutter und mein Vater verstehen kein Türkisch. Mein Lehrer sagte: Sprich Türkisch! Ich kann nicht Türkisch sprechen, antwortete ich. Er sagte: Kurdisch ist hier verboten, du musst Türkisch sprechen! Ich wurde oft geschlagen, weil ich kein Türkisch konnte. Diese Schule war wie das Militär. Es ging nicht ums Lernen, nur um die Ordnung.


Ich sagte: In Kurdistan sterben viele Kinder. Darauf sagte der Professor: Bei euch sind schon die Kinder Terroristen.


Als ich zwanzig Jahre alt war, ging ich zur Universität in einer Stadt nahe bei Istanbul. Ich studierte Geschichte, Geografie und Menschenrechte. In dieser Stadt und an der Universität habe ich viel Rassismus erlebt. Die Akademiker und die anderen Student*innen sprachen nie mit mir. Einmal sagte ein Professor in seinem Kurs: Die Kurden gibt es nicht. Ich fragte: Warum sagen Sie, die Kurden gibt es nicht? Ich spreche Kurdisch, meine Mutter spricht Kurdisch. Er sagte: Nein, Kurdisch gibt es nicht. Darauf haben alle Student*innen in die Hände geklatscht. Ich sagte: In Kurdistan sterben viele Kinder. Darauf sagte der Professor: Bei euch sind schon die Kinder Terroristen. Darauf sagten die anderen Student*innen: Der Professor hat Recht! Und sie klatschten noch mehr in die Hände. Vier Jahre lang haben die Leute an dieser Universität nicht mit mir gesprochen.

Am 8. März machten wir eine Demonstration für die Rechte der Frauen und am 1. Mai eine für die Rechte der Arbeiter*innen. Es hiess dann aber, diese Demonstrationen seien verboten. Eines Tages kam die Polizei frühmorgens in unser Haus, in dem ich mit anderen kurdischen Leuten wohnte. Sie nahmen uns mit und brachten uns ins Gefängnis, wo wir neun Monate bleiben mussten. Es war sehr, sehr schlimm im Gefängnis, alle dort waren Rassisten. Danach kam ich zurück in die Universitätsstadt.
Es war für mich sehr schwierig, das Studium abzuschliessen. Die Professoren kannten mich. Wenn wir eine Prüfung schrieben und sie meinen Namen auf dem Papier sahen, gaben sie mir sehr wenig Punkte. Wenn hundert Punkte das Maximum waren, gaben sie mir zwanzig oder zehn oder dreissig. Die türkischen Student*innen bekamen immer viel mehr Punkte, auch wenn sie nicht besser waren als ich. Trotzdem bekam ich am Ende das Diplom.

Zuerst war ich eine Zeit lang Lehrer in Kurdistan in meiner Stadt Hakkari oder Colemêrg, wie sie für uns Kurden heisst. Die kurdischen Namen der Städte und Dörfer in Kurdistan waren ja alle von Kemal Atatürk ausgewechselt worden. Mein Name ‘Azad’ zum Beispiel ist ein kurdischer Name. Dieser Name war vor dreissig Jahren verboten. Meine Eltern nannten mich Nasreddin. Das ist ein türkischer Name, aber ich will nicht so heissen. Deshalb nennen mich nun alle Leute Azad. Azad bedeutet Freiheit.

Nach einem Jahr als Lehrer in Kurdistan ging ich nach Izmir. Weil ich in den öffentlichen Schulen keine Stelle fand, suchte ich die Privatschulen auf und sagte: Ich bin Lehrer, ich habe ein Diplom. Die Leute fragten: Du kommst aus Hakkari? Ich sagte: Ja, ich komme aus Hakkari. Sie fragten: Bist du kurdisch? Ich sagte: Ja, ich bin kurdisch. Darauf sagten sie: Entschuldigung, es ist keine Stelle frei. Wir haben genug Lehrer! Ich habe lange gesucht, bis ich eine Privatschule fand, wo es kurdische Leute gab. Der Direktor sagte: Du kannst hier bleiben. Darauf begann ich, in dieser privaten Schule in Izmir zu arbeiten.

Nach ungefähr einem Jahr erhielt ich den Strafbescheid für die Demonstrationen während meiner Studentenzeit: Ich sollte sechs Jahre und drei Monate ins Gefängnis! Ich musste die Türkei ganz schnell verlassen, oder aber ins Gefängnis gehen. Mein Kollege und ich wollten fliehen. Wir sprachen mit jemandem, der uns helfen konnte. Weil wir kein Visum bekommen konnten, war es kompliziert.


Nach ungefähr einem Jahr erhielt ich den Strafbescheid für die Demonstrationen während meiner Studentenzeit: Ich sollte sechs Jahre und drei Monate ins Gefängnis!


Zuerst ging die Reise nach Aserbaidschan. Von da kamen wir nach Katar, dann nach Brasilien, nach Peru und von da in die Dominikanische Republik, wo wir vier Tage warten mussten. Dann kamen wir in die Schweiz. Es war eine schwierige Reise, weil wir kein Englisch sprachen. Wir sprachen überhaupt keine anderen Sprachen. Die ganze Reise dauerte fünfzehn Tage.

Ich habe Kontakt mit meiner Familie in der Türkei. Doch es ist schwierig für sie. Die türkische Regierung überwacht, wer mit wem Kontakt hat und sagt: Du bist auch ein Terrorist! Ich wünsche mir mehr Demokratie. Diktatoren sind nicht gut, Rassisten sind nicht gut. Vor fünf oder sechs Jahren hatte ich in der Türkei einen Cousin, der bei der Guerilla in den Bergen war und gegen die Türkei kämpfte. Jetzt ist er tot.

Es hat sich seit hundert Jahren nichts geändert für die Kurden; nichts hat sich geändert, seit Kemal Atatürk die heutige Türkei mit ihrem repressiven System gründete, eine Türkei, in der es keine andere Sprache als Türkisch gibt und keine Rechte für die Minderheiten.

Aufgezeichnet von Katharina Morello

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