20. Mai 2020 Recherchegruppe Embrach

«Du meinst wohl, wir sind hier in einem Hotel»

In den neuen Bundesasylzentren wird systematisch Gewalt gegen Geflüchtete ausgeübt. Betroffene in Embrach berichten.

Behzad steht um 23:30 Uhr, 30 Minuten nach der abendlichen Türschliessung, vor dem Bundesasylzentrum (BAZ) in Embrach. Der Securitas-Mitarbeiter, der die Nachtwache an der Sicherheitsloge hält, verwehrt ihm den Eintritt ins Innere des Lagers. Dann verweist er ihn auf eine Abstellkammer neben dem Warteraum, das sogenannte Notschlafzimmer. Obwohl in der Hausordnung nicht erwähnt wird, wie mit Zuspätkommenden zu verfahren ist, scheint der Sicherheitsangestellte sich hier auf Anordnungen des SEM (Staatssekretariat für Migration) zu stützen.

Behzad wehrt sich: «Ich finde das demütigend, das Zimmer ist extrem dreckig und es stinkt.» Und weil das Lager zum Zeitpunkt des Geschehens unterbelegt ist, es also viele freie Zimmer gibt, in denen niemand aus dem Schlaf gerissen würde, fragt Behzad, ob er sich in einem der leeren Schlafzimmer hinlegen darf. Der Securitas-Mitarbeiter antwortet ihm mit der abfälligen Bemerkung: «Du meinst wohl, wir sind hier in einem Hotel!» So erzählt es Behzad dem ‹Ajour-Magazin›.

Nach diesem Vorfall schlägt Behzad wutentbrannt zwei Scheiben im Eingangsbereich des Zentrums ein. Es kommt zur heftigen Auseinandersetzung zwischen Behzad und drei Securitas-Mitarbeitenden, bei der Behzad der Kiefer gebrochen wird. Dies wird erst nach seinem dreitägigen Aufenthalt im Knast auf dem Zürcher Kasernenareal festgestellt. Der Arzt im Polizeigefängnis hatte Behzad zuvor attestiert, in haftfähiger Verfassung zu sein, obwohl sich dieser mehrmals über Schmerzen im Gesicht beklagt hatte.

Zurück in Embrach erkennt der Pfleger die Schwere der Verletzung und überweist Behzad ins Spital, wo er sich einer mehrstündigen Operation unterziehen muss. Zurück im Lager wird er in die Loge zitiert, wo der Leiter ‹Betreuung› für das BAZ Embrach, ein weiterer Mitarbeiter der AOZ und der Chef des Sicherheitsdienstes auf ihn warten. Nach seinem Gesundheitszustand erkundigen sie sich nicht, sondern sagen, dass er Probleme bereite und hier nicht willkommen sei. Behzad werden noch strengere Regeln für seine restliche Zeit in Embrach auferlegt – er wird laut seiner Darstellung von allem ausgeschlossen, inklusive der Möglichkeit, zu arbeiten. Die Wut bleibt.


Zurück in Embrach erkennt der Pfleger die Schwere der Verletzung und überweist Behzad ins Spital, wo er sich einer mehrstündigen Operation unterziehen muss.


Seit dem 1. März 2019 ist in der Schweiz das neue Asylgesetz in Kraft. Das von der SP-Bundesrätin Simonetta Sommaruga entworfene Gesetz brachte gravierende Veränderungen mit sich, wobei die beschleunigten Verfahren und die sogenannten «Bundesasylzentren» für die Asylsuchenden die einschneidendsten Neuerungen bedeuten.

Angesichts des straffen Regimes, welches mit der Gesetzesrevision eingeführt wurde, ist der Begriff «Bundesasylzentren» beschönigend. Hier werden sie als Bundeslager bezeichnet, um den gefängnisähnlichen Charakter zu unterstreichen. Sprache ist Handeln, deshalb ist der Name «Bundesasylzentrum» ein erster Schritt der kollektiven Verdrängung. Die Bundeslager sind keine Orte der gemeinsamen Mitte, sondern Orte der Gefangenschaft, Strafe und Gewalt.


Es gibt verschiedene Arten von Gewalt

Vor der körperlichen Gewalt kommt es oft zu psychischer Gewalt, wie Bewohner*innen des Zentrums berichten. Diese hinterlässt keine sichtbaren Spuren, ist jedoch nicht weniger gravierend. Bedrohen, Beschimpfen, Verspotten, Erniedrigen, Diskriminieren: All diese Formen der psychischen Gewalt verletzen Personen systematisch in ihrer Würde und ihrem Selbstverständnis.

Auf starre Dienstausführung folgen spöttische Kommentare wie «Du hast wohl das Gefühl, wir sind hier in einem Hotel.» Den betroffenen Menschen wird suggeriert, sie hätten keine Rechte oder müssten sich besonders vorbildlich verhalten. Auf Behzads Frage nach einem menschenwürdigen Schlafplatz wird entgegnet, dass er dankbar sein soll, überhaupt einen Platz zum Schlafen zu kriegen. Dabei ähneln die Lager eher Gefängnissen als Hotels. Wo sonst werden Menschen durchsucht und unter Generalverdacht gestellt? Dafür soll man sich bedanken?!
Bedrohen, Beschimpfen, Verspotten, Erniedrigen, Diskriminieren: All diese Formen der psychischen Gewalt verletzen Personen systematisch in ihrer Würde.

Wie würden Sie einer Person entgegentreten, die Ihnen sagt, wann Sie zu Hause sein sollen? Sie fragt, woher Sie die neuen Sachen haben, und von Ihnen verlangt, für alles eine Quittung vorzuweisen, weil man denkt, dass Sie klauen? Wie würden Sie reagieren, wenn Sie in Ihr Pyjama schlüpfen, und jemand ins Zimmer reinplatzt, um das Fenster zu schliessen, das Sie nicht selber bedienen können?


Betroffene bleiben ungehört

Psychische Gewalt bleibt oft ungesehen. Es ist für Betroffene ausserordentlich schwierig, sich dagegen zu wehren. Im Fall einer Konfrontation steht oft Aussage gegen Aussage – der psychische und zeitliche Aufwand für die Aufarbeitung psychischer Gewalterfahrung ist daher sehr gross und emotional anspruchsvoll. Mehrere Bewohner*innen des Bundeslagers in Embrach berichten von rassistischen Beleidigungen seitens der Securitas-Mitarbeitenden. Dass diese nie Folgen hatten für die Täter*innen, ist ein strukturelles Problem. Für Beschwerden gibt es Formulare, die im Lager an einem Kiosk bezogen und an die Lagerleitung weitergeleitet werden können. Die Betroffenen haben wenig Grund, davon auszugehen, dass man ihre Vorwürfe ernsthaft prüft. Stattdessen befürchten sie negative Folgen aufgrund ihrer schwachen Position gegenüber dem Sicherheitspersonal. Nur wenige Betroffene von Diskriminierung im Lager reichen tatsächlich eine Beschwerde ein.

Im Dezember fehlte den meisten Personen im Lager Winterkleidung, doch Nachfragen versandeten oder wurden mit der Antwort abgewiesen, die Kleidung sei wegen der angeblich kurzen Aufenthaltsdauer nicht nötig. Mittlerweile haben jedoch schon mehrere Personen die im neuen Asylgesetz angekündigte maximale Aufenthaltsdauer im Bundeslager von 140 Tagen überschritten.

Die Erfahrung, machtlos zu sein, machte auch Behzad. Nach einigen Tagen zurück in Embrach beleidigte ihn der Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes, der ihm den Kiefer gebrochen hatte, rassistisch und drohte ihm, dass er ihm den Kiefer auf der anderen Seite auch noch brechen würde. Behzad erstattete Anzeige wegen Körperverletzung, hat aber wenig Hoffnung auf Erfolg. Dem ‹Ajour-Magazin›, das am 31. Januar 2020 erstmals über diesen verstörenden Fall berichtete, sagte er: «Wir haben kaum Möglichkeiten, uns irgendwie zu wehren. Wir werden komplett überwacht, niemand hört uns zu und wir werden jeden Tag mit Personenkontrollen und schikanösen Regeln gedemütigt.» Behzad wurde mittlerweile nach Deutschland ausgeschafft, wie er der Recherchegruppe berichtet – er war froh, die vermeintlich freie Schweiz zu verlassen.
Täter*innen werden geschützt

Das SEM schützt seine Angestellten und schenkt Opfern von psychischer Gewalt wenig Raum für Aufarbeitung. Es ist keine Seltenheit, dass die Wahrnehmung der von Rassismus unterdrückten Menschen abgestritten oder in Frage gestellt wird. Das führt dazu, dass Vorfälle aus Erschöpfung und Angst vor negativen Folgen nicht mehr angesprochen werden.

Eine Folge davon ist eine Beschönigung der Realität. Je weniger wir über rassistisch motivierte Gewalt – physische und psychische, individuell und strukturell bedingte – an Menschen reden, umso mehr verschleiern wir die Probleme unserer Gesellschaft. Es sind die strukturellen Folgen unserer Asylgesetze, welche die Gesellschaft in einer Unwissenheit lassen und die Auseinandersetzung über das Leid der Menschen in den Lagern systematisch unterdrücken. Gespräche über die Alltäglichkeit von Gewalt gegenüber asylsuchenden Menschen sind notwendig, wenn wir die Ungerechtigkeiten, die diese Menschen erleben, überwinden wollen. Erst die Erzeugung von Öffentlichkeit entsteht die Möglichkeit, Bewusstsein zu schaffen und das vernebelte Bild zu klären, welches die Öffentlichkeit von einer vermeintlich funktionierenden Asylverwaltung hat.
Gespräche über die Alltäglichkeit von Gewalt gegenüber asylsuchenden Menschen sind notwendig.

Strukturelle Gewalt ist die Folge von gesellschaftlichen Bedingungen. Sie wird in den Bundeslagern etwa am Eintrittsverfahren sichtbar. Der Eintritt ins Lager erfolgt über einen Durchgang mit Rezeption. Hinter Glasscheiben sitzt jeweils ein*e Securitas-Mitarbeiter*in. Seit Beginn des Jahres wird diese Aufgabe schrittweise an Angestellte der Protectas SA übergeben. Für die Bewohner*innen verläuft der Ersteintritt ins Lager mit einer längeren Prozedur. Personalien zu Protokoll geben, Fingerabdrücke abgeben, fotografiert werden, Durchsuchung des Gepäcks und Leibesvisitation. Reisepapiere und Identitätsausweise müssen an der Theke abgegeben werden, alles Wertvolle wird hinterlegt.

Den Menschen wird beim Eintritt ihre Identität und ihre Würde genommen. Jeder erneute Aus- und Eintritt erfolgt zu festgelegten Zeiten, wird von einer Leibesvisitation begleitet und macht den Bewohner*innen klar, dass sie hier keine freien Menschen sind. So wurde einem Vater ein Löffel abgenommen, mit dem er seiner Tochter den Hustensaft verabreichen wollte, der ihr vom Arzt verschrieben worden war. Zeitweise kontrollierte das Sicherheitspersonal, dass keine Lebensmittel vom Frühstück für den Rest des Tages mitgenommen werden. Da sich teilweise bis zu zehn Personen eine Steckdose im Zimmer teilen müssen, kauften sich einige einen Steckdosenverteiler – welcher konfisziert wurde. Diese Liste ist lang und unvollständig.


Einem Vater wurde ein Löffel abgenommen, mit dem er seiner Tochter den Hustensaft verabreichen wollte, der ihr vom Arzt verschrieben worden war.


Für einige Geflüchtete ist der Grund ihrer Auswanderung erlebte physische Gewalt. Kriegstraumata sind häufige Phänomene. Dass sie in den Bundeslagern erneut Formen der Gewalt ausgesetzt sind, ist ein untragbarer Zustand. Oft sind die Menschen schockiert über die bittere Realität, die nicht ihren Erwartungen entspricht. Körperliche Verletzungen können von fremden Menschen, aber in der Form der Selbstverletzung auch von den Opfern selbst ausgehen. Die Trostlosigkeit in Embrach ist gross. Auf der einen Seite ragt ein riesiger Wohnblock auf, gegenüber steht das Gebäude der Integrierten Psychiatrie Winterthur.

Täglich geplagt vom Schweizer Verwaltungswahn, orchestriert vom SEM und ausgeführt von der AOZ und den Sicherheitsdiensten, bringen die Zustände im Bundeslager Embrach die Insass*innen immer wieder an ihre Grenzen. Wiederholt wurden Asylsuchende wegen suizidalem Verhalten oder schweren Selbstverletzungen in die benachbarte psychiatrische Anstalt der IPW eingewiesen. Anstatt die Asylsuchenden aufzufangen, sind die Bundeslager dazu da, sie einem starren Prozess zu unterwerfen und ihnen klar zu machen: Wir wollen euch nicht. Selbstverletzungen sind Akte der Verzweiflung. Sie spiegelnd die Situation dieser Menschen, die Aussichtslosigkeit und Ungerechtigkeit.


Corona verschlimmert alles

Die Ausbreitung des Corona-Virus verschlimmert die Situation in den Bundesasyllagern zusätzlich. In Gesprächen mit Bewohner*innen und in der Recherchegruppe vorliegenden Videos und Fotos wurde klar, dass die vom BAG empfohlenen Sicherheitsmassnahmen keineswegs eingehalten werden können.

In Embrach wohnen – entgegen teilweise anderer Verlautbarungen des SEM – nach wie vor bis zu 10 Personen in einem Zimmer, bis zu 30 teilen sich laut deren Aussagen jeweils ein Badezimmer und WC. Die Menschen im Lager sind verunsichert und klagen über nicht ausreichende Information.

Hinzu kommt, dass die solidarischen Strukturen, welche die Asylsuchenden mit Informationen, juristischer Hilfe und vielem mehr unterstützen, erheblich in ihren Tätigkeiten eingeschränkt sind. Die Verfahren der Asylsuchenden laufen dennoch weiter und der Bundesrat erlaubt sogar, Befragungen durchzuführen ohne die Anwesenheit einer Rechtsvertretung.
Widerstand und Solidarität

Es zeugt von der Selbstgefälligkeit unserer Gesellschaft, dass sie diese Zustände weitgehend ignoriert. Die Bewohner*innen dieser Lager können und tun das nicht. Ob einzeln oder im Kollektiv – der Widerstand von Asylsuchenden gegen die Verwaltung ihres Lebens wächst. Behzad wehrte sich verbal, mit symbolischem Protest und zuletzt auch mit Gewalt gegen die Gewalt, die er ertragen musste. Behzads Fall ist nur einer von vielen.

Im Bundeslager auf dem Duttweiler-Areal in Zürich schlossen sich im November 2019 etwa 30 Bewohner*innen zusammen und protestierten lautstark gegen ihre Einsperrung. Am 11. November demonstrierten in Bern circa 2000 Personen mit verschiedenen Aufenthaltsstatus im Rahmen der «Asylcamps sind keine Lösung»-Demonstration gegen die Verwaltung und Kategorisierung von Menschen. Im August fuhren bis zu 70 Personen 18 Tage lang mit dem Fahrrad durch die Schweiz und besuchten Bundesasylzentren – als Zeichen gegen die Politik der Isolation und Abschottung.

Dies sind kleinere und grössere Aktionen des Widerstands. Sie mögen auf den ersten Blick verschwinden in der Brutalität des Asylregimes in der Schweiz. Aber sie sind alles andere als gering. Es sind Zeichen von Menschen, die für ihr Recht auf Existenz kämpfen, die sich organisieren, um gemeinsam zu kämpfen, und von jenen, die sich solidarisieren.

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