1. Mai 2015 Sirin Demir

Ein Augenschein in Suruc

Pro-kurdische Kundgebung in der Nähe von Suruc

Ein Aktivist aus Zürich verbrachte im vergangenen November mehrere Wochen in den kurdischen Gebieten der Südtürkei rund um die Stadt Suruc.

Wie bist darauf gekommen, nach Kurdistan zu gehen?
Ich habe einen Vortrag der Internationalistin Anja Flach über die Kurdische Frauenguerilla  besucht. Anja Flach war eineinhalb Jahre bei der PKK-Guerilla. Ihr Vortrag hat mich auf die Problematik aufmerksam gemacht. So habe ich begonnen, über Kurdistan zu lesen. Die Kurd_innen  kämpfen für einen demokratischen Konföderalismus, für die Autonomie, für kommunale Selbstverwaltung durch die Basis. In der Ideologie der PKK gibt es keine Staatsgrenzen. Mit verschiedenen Menschen und Gruppen, darunter auch kurdischen, stellten wir eine Delegation zusammen. Ich ging zwei Wochen nach Istanbul und drei Wochen nach Kurdistan.

Weshalb wolltest du Kurdistan aus der Nähe kennenlernen?
Mir ist es wichtig, nicht nur über die Situation der Kurd_innen in den Medien zu lesen. Deshalb habe ich den direkten Kontakt gesucht. Ich wollte die Leute selbst hören und mir ein Bild von der Situation machen, und die internationale Solidarität ist wichtig.

Wie beschreibst du die Situation der Menschen an der Grenze?
Die Grenze teilt Familien. Es gibt Dörfer, die zur Hälfte in Syrien und zur Hälfte in der Türkei sind. Die Familienmitglieder können sich kaum sehen.

Was heisst Kobane für dich?
Durch Kobane hat die Situation der Kurd_innen grosse internationale Aufmerksamkeit erhalten. Es ist ein Kampf gegen Imperialismus, gegen Kapitalismus, gegen das Patriarchat. Vorherrschende Strukturen werden angegriffen und Neues wird erkämpft. In Syrien findet ein Krieg mit internationaler Beteiligung statt. Europa, Amerika und arabische Staaten sind beteiligt. Auch die Schweiz ist darin verwickelt. Es geht uns alle etwas an.

In Kobane kämpfen auch Frauen. Wie beschreibst du die Kämpferinnen in Kobane?
Die Kämpferinnen sind überzeugt, dass eine andere Gesellschaft nur möglich ist durch die Befreiung der Frau und die Bekämpfung des Patriarchats. Die aufständischen Frauen, die in Kobane kämpfen, greifen genau diese feudalen und patriarchalen Strukturen an. Die Selbstorganisation der Frauen ist beeindruckend. In allen Bereichen gibt es eigene Gruppen und Komitees. Seit über 20 Jahren organisieren sich Frauen in der Kurdischen Befreiungsbewegung in eigenen Einheiten, an vielen Orten gibt es eine 50/50 Frauen/Männer-Quote, etc...

Was ist das Ziel?
In erster Linie ist das Ziel sicher, weitere Massaker zu verhindern. Und dann eben neue Strukturen im Mittleren Osten aufzubauen, in denen sich alle Menschen, Volksgruppen, Glaubensgruppen, etc. wiederfinden und auf gleicher Ebene sind. In den Regionen von Rojava leben viele unterschiedliche Menschen: Kurd_innen, Assyrer_innen, Araber_innen, Ezid_innen... Alle brauchen Orte, wo sie auf ihre Weise leben können, ohne dass ihnen Gewalt angetan wird. Die Verteidigung mit der Waffe in der Hand ist notwendig, um grösseres Leid zu verhindern. Es gibt auch seit Jahren Friedensvereinbarungen mit dem türkischen Staat. Doch werden sie meistens nur von Seiten der Kurd_innen eingehalten.

Was meinst du mit Gewalt?
Ich wurde während meiner Zeit in Kurdistan ein paar Mal von der türkischen Polizei kontrolliert, nur weil ich ein paar Wörter kurdisch sprach.  Eine Sprache zu verbieten, ist Gewalt. Die Kommunikation untereinander wird abgeschnitten und die  Sprache des Unterdrückers aufgezwungen. In der Öffentlichkeit kurdisch zu sprechen, kann starke Repression zur Folge haben, und wird somit auch zu einem politischen Akt.

Was hast du in Suruc gesehen, was haben die Flüchtlinge erzählt?
Besonders eindrücklich war die Solidarität unter den Menschen. Die meisten Geflüchteten, die nach Suruc gingen, kamen bei Leuten, die in der Stadt leben, unter. In den Lagern sind ca. 30'000 Menschen aus Kobane.

Am Tag gegen Gewalt an Frauen am 25. November gab es eine grosse Frauendemonstration. Tausende von Frauen kamen aus allen Teilen Kurdistans und von weiter her. Es war schön, dass so viele Leute da waren. Die Mobilisierung ist gross.

Die meisten Geflüchteten aus Kobane wollen wieder zurück und ihre Stadt neu aufbauen. Wie uns ein paar Eziden in einem Camp sagten, fühlen sie sich von der Welt im Stich gelassen und bitten um Unterstützung. Sie möchten einfach irgendeinen Ort auf der Welt, wo sie in Frieden leben können.
In den Lagern ist die Stimmung sehr angespannt. Die Leute können nicht viel tun, viele sind traumatisiert. Ich habe im New Kobane Camp gearbeitet. Wenn wir Zeit hatten, spielten wir mit den Kindern. Das waren gute Momente.

Möchtest du noch einmal nach Kurdistan zurück?
Ja, ganz bestimmt, aber im Moment ist noch unklar, wann das sein wird.

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