4. August 2020 Radoje Markovic

«Ein Teil des Lebens ist in Schutt und Asche verschwunden»

Der Fotograf Igor Čoko dokumentiert das Leben von Geflüchteten in Belgrad. Als junger Mann hatte er selbst flüchten müssen. Fotografie ist für ihn ein mächtiges Werkzeug, um Vorurteile aufzubrechen.

In welchem Zeitraum ist die Fotoserie über Geflüchtete in Belgrad entstanden?
Meine erste Fotoserie über Geflüchtete aus Syrien, Afghanistan, Pakistan, Iran und Irak ist 2015 entstanden, als all diese Menschen, vor allem Syrer*innen, an den Rändern des damaligen Bahnhofs in Belgrad und in den Parks neben dem damaligen Busbahnhof und der Wirtschaftsfakultät aufgetaucht sind.

Wieso gerade dort?
Aus dem einfachen Grund, dass während dieser ersten Migrationswelle Belgrad nur als Transitstadt auf dem Weg nach Westeuropa diente. Die Menschen hielten sich bis zu 72 Stunden hier auf und fuhren danach per Zug, Bus oder Taxi weiter.

Belgrad war also zuerst nur eine Durchgangsstation?
Bis zum Bau des Stacheldrahtes an der Grenze zu Ungarn und Kroatien haben ca. 1.8 Millionen Flüchtende und Migrant*innen Belgrad passiert. Plötzlich herrschte ein Chaos, bis Mitte 2016. Dann blieben ca. 6000 registrierte Migranten in Camps in Belgrad und weitere 1000, die sich nicht registrieren lassen wollten, vor allem ältere Minderjährige, also Jugendliche, sowie jüngere und auch einige ältere Männer. Sie besetzten später, nach missglückten Grenzübertritt-Versuchen in Horgos, die verlassenen Hangars in Savamala auf dem Gelände des zukünftigen Grossbauprojekts «Belgrade Waterfront». Dort ist meine erste Fotoserie «Eingesperrte» entstanden. Sie zeigt die dort entstehende humanitäre Krise. Die Veröffentlichung dieser Fotos sowie begleitende Aktionen konnten das Schlimmste verhindern.

Was geschah dann?
Heute sind diese Baracken abgebrochen, die Menschen konnten von dort entweder in den Westen flüchten oder eine Lösung in Serbien finden. Ich rede hier von der Zeitspanne von Oktober 2016 bis April 2017. Die Geschichte der Migranten*innen, heutzutage grösstenteils aus Afghanistan stammend, verfolge ich bis heute. Die Balkanroute ist nach Bosnien umgeleitet worden, wo heute die grösste humanitäre Krise herrscht, besonders in den Camps Vucijak und in der Umgebung von Bihac und Tuzla. Belgrad ist weiterhin ein Checkpoint für kleinere Gruppen, die sich auf der Durchreise befinden. Sie hausen hier unter menschenunwürdigen Bedingungen. Meine neuste Fotoserie, die in dieser Zeitung zu sehen ist, handelt von ihnen und von der Problematik, dass sie als Minderheit keine Aufmerksamkeit erhalten. Sie sind die Übriggebliebenen, für die alle Türe verschlossen sind und deren Zukunft ungewisser ist als je.


Serbien ist heute das Land mit der grössten Anzahl an Geflüchteten in Europa.


Hat sich seitdem etwas verändert im Belgrader Flüchtlingscamp?
Heute, fünf Jahre nach Beginn der Krise, begegne ich Migranten, die sich in den Camps anmelden wollen, aber mit einem behördlichen Schreiben abgelehnt werden, das sie zur Ausreise innerhalb von 90 Tagen zwingen will. Ihre Anzahl ist viel kleiner als damals, sie sind aber präsent. Die Balkanroute ist irgendwo verstopft. Aber die Leute werden weiterhin kommen. Denn «hinter» Serbien liegen Nordmazedonien und insbesondere Griechenland und die Türkei, wo sich eine unglaubliche Menge von Geflüchteten aufhält. Dies ist eine Geschichte, die nicht so schnell ein Ende finden wird. Vielleicht herrscht jetzt eine Art Ruhe vor einer erneuten Krise.

Verfolgten Sie mit Ihren Fotografien der Geflüchteten ein konkretes Ziel?
Als Fotograf, Dokumentarist und Anthropologe wollte ich diese Ereignisse, die heftig und unerwartet auftraten, festhalten. Wir wurden und werden wie durch eine Naturgewalt mit Menschen konfrontiert, welche irgendwo hingehen, mit Tausenden von Kilometern und einer Menge Sorgen auf dem Rücken und überlebten Traumata hinter sich. Dies sieht man klar in ihren Augen. Die Geschichte ist ausser Kontrolle geraten und musste medial präsentiert werden, damit die Welt sieht, was geschieht, und damit die herrschende Agonie durchbrochen wird. Denn es ist doch abnormal, dass in einer Zwei-Millionen-Stadt mehr als tausende Geflüchtete illegal und unter menschenunwürdigen Umständen lebten, weil sie aufgrund von geschlossenen Grenzen nicht weiterkonnten.


Es zeigte sich, dass die Fotografien ein mächtiges Werkzeug sind, um Vorurteile aufzubrechen und Empathie zu schaffen.


Haben die Bilder ihr Ziel erreicht?
Aus einer Fotoserie sind begleitende Aktionen entstanden. Es zeigte sich, dass die Fotografien ein mächtiges Werkzeug sind, um Vorurteile aufzubrechen und Empathie zu schaffen. Sie können die Leute dazu bringen, Menschen, die hilfloser sind als sie selbst, zu helfen. Diese Menschen haben Belgrad nicht als den Ort gewählt, an dem sie bleiben möchten. Sie sind hier stecken geblieben und konnten schlichtweg nicht weiter. Im Vergleich zu Ländern, welche die Geflüchteten bereits durchquert haben und in denen sie Folter ausgesetzt waren, gab es in Belgrad keine physischen Misshandlungen. Die Geflüchteten hatten aber auch keine Absicht, hier zu bleiben. Ja, das Engagement hat sein Ziel erreicht, die Fotografien haben eine Geschichte losgetreten, Änderungen haben stattgefunden. Darin liegt die wahre Kraft der fotografischen Dokumentation.

Geschahen nach der Veröffentlichung der Fotografien unerwartete Dinge?
Wie schon gesagt, die Fotos haben eine Lawine ausgelöst. Aus einer gewöhnlichen Veröffentlichung sind Aktionen entstanden. Die Fotografien gingen viral, und sie haben vor allem Menschen aus Westeuropa dazu gebracht, als Freiwillige nach Belgrad zu kommen, um sich um diese Leute zu kümmern, Hilfe anzubieten oder Spenden zu tätigen. Die Fotos selbst habe ich für Sammelaufrufe zur Verfügung gestellt, und da haben sie gute Dienste geleistet. Selbstverständlich unentgeltlich, denn in diesem Fall war nicht ich als Autor wichtig, sondern die Fotografie an und für sich war das Mittel zum Zweck, um die Umstände aufzuzeigen.

Ich bin überzeugt, dass Ihre Fotografien niemanden gleichgültig lassen. Gibt es aber trotzdem etwas, dass in ihnen nicht sichtbar, sondern nur spürbar ist?
Das Wesentliche besteht nicht darin, sich selbst vor die Fotografie zu stellen, sondern das Gegenüber vor der Kamera auf die direkteste Art und Weise zu zeigen; kein Voyeur zu sein, sondern ein direkter Beteiligter des Geschehens. Das durchzumachen, was diese Menschen durchmachen, so dass der «Klick» am Drücker letztlich eine Koexistenz, eine Sympathie im ursprünglichen Sinn darstellt. Ich bezweifle, dass die Atmosphäre wirklich rüberzubringen ist, wenn man sie nicht direkt am eigenen Leib erfahren hat durch das Zusammenleben mit diesen Menschen. Es ist ein Prozess, in dem die Menschlichkeit die Basis bildet, und nicht die Jagd nach dem besten Bild. Von Angesicht zu Angesicht ist man nah genug, das Wesentliche zu entdecken und zu zeigen – denjenigen, die es sehen wollen.

In den Neunzigern haben Sie selber das Schicksal eines Flüchtlings erlebt. Wie war das genau? Was geschah, und wie alt waren Sie damals?
Ja, ich habe das sogenannte Abenteuer «Oluja» hinter mir. Es hat mich vor meinem zwanzigsten Geburtstag heimgesucht.

Sie meinen die sogenannte Operation Oluja im Jahr 1995, als kroatische Soldaten in die «Republik Serbische Krajina» einmarschierten. 200'000 Menschen mussten fliehen.
Ich hatte geglaubt, dies schon vor langer Zeit verarbeitet zu haben. Diese Szenen mit den Menschen aus Syrien und Afghanistan haben in mir schon vergessen geglaubte Erinnerungen hervorgerufen. Ich habe aber begriffen, dass mein «schreckliches» Abenteuer, welches eine Tragödie war, nichts ist im Vergleich mit ihrer Agonie. Damit wir uns richtig verstehen: Niemand nimmt einfach so diesen weiten und ungewissen Weg auf sich. Ich bin auch nicht einfach so nach Serbien gegangen, sondern nur, weil meine Geburtsstadt direkt angegriffen wurde und nur eine kleine Chance bestand, dies zu überleben. Man flieht, um zu überleben. Einige nehmen 700 Kilometer auf sich, andere 7000 Kilometer, wie im Falle der Syrer und Afghanen. Diese Leute flüchten vor Krieg und zerstörtem Leben. Wir sollten keine Vorurteile haben, sondern mit Ihnen zusammensitzen und reden. Glauben Sie mir, Sie werden unvorstellbare Tragödien entdecken. Auch wenn es unter ihnen auch Menschen geben mag, welche die Situation ausnützen wollen und aus anderen Gründen in den europäischen Westen kommen. Aber diese stellen eine winzig kleine Minderheit dar.


Von Angesicht zu Angesicht ist man nah genug, das Wesentliche zu entdecken und zu zeigen – denjenigen, die es sehen wollen.


Heutzutage kann man sagen, ein erfolgreicher Mensch ist jemand, welcher seine Ideen umsetzt. Was hat Ihnen damals als junger Mensch, der sich in einer fremden Gesellschaft wiederfand, am meisten geholfen: Hartnäckigkeit? Das Umfeld, die Schule, die Familie? Oder die Liebe? Was denken Sie mit der heutigen Distanz darüber?
Ein Teil des Lebens ist in Schutt und Asche verschwunden, ein anderer hat in einer unbekannten Umgebung überlebt und sich weiterentwickelt. Auch wenn es ein schmerzhafter Prozess ist, darf man nicht aufgeben. Man erkennt in diesen «Nicht-dazu-Gehören»-Redensarten den Reichtum eines multikulturellen Hintergrunds. Man nimmt, gebrandmarkt durch ethnische und nationalistische Vorurteile, eine andere Perspektive ein. Wenn man weiss, was man will, ist man mit sich selbst im Reinen, resistent gegen negative Seiten des neuen Umfeldes und gegen die Dämonen der Vergangenheit. Es gibt keine Rachegedanken und böse Absichten. Selbstanalyse, persönliche Katharsis und ein rationales Bild des Vergangenen, das einen in die heutige Situation gebracht hat, bilden den Weg, auf dem man sich – aus dieser Distanz gesehen – wie ein freier Mann fühlen kann, der niemandem eine Rechnung oder Erklärung schuldig ist für Dinge aus der Vergangenheit, die im Namen des Volkes passiert sind. Denn am Ende bin ich nicht das Volk, sondern ein Individuum mit einer Identität, welches eine breitgefächerte Sicht auf die Welt hat – egal, wo ich mich befinde.

Können Sie Parallelen zwischen der damaligen Flüchtlingskrise in Serbien und der heute aktuellen Krise ziehen?
Realistischerweise nicht. Syrien ist am ehesten vergleichbar, das ist ein vollkommen zerstörtes Land. Man muss aber auch die Menschen aus Afghanistan verstehen, welche vor den Taliban fliehen. Oder jene Asylsuchenden aus dem Iran, welche vor allem politische Dissidenten sind oder bedrohten sexuellen Minderheiten angehören. In den Neunzigern auf dem Balkan fanden wir uns als Fremde auf dem eigenen Territorium unseres ehemals gemeinsamen Landes wieder. Die heutigen Geflüchteten hingegen entstammen einem kulturell ganz anderen Raum und suchen verzweifelt Schutz in einer unbekannten Kultur, welche wirtschaftliche Macht besitzt.


Man flieht, um zu überleben.


Denken Sie, dass das Thema der Geflüchteten in Serbien oder in der Welt richtig angegangen wird? Ich habe in der Tageszeitung «Danas» ein offizielles Statement über Geflüchtete in Serbien gelesen, ohne eine einzige Fotografie, welche die Lage illustriert hätte. Ein Interview mit einem Geflüchteten wird vom Publikum inmitten der ganzen Informationsflut gar nicht erst erwartet. Weshalb?
Eine schwierige und komplexe Frage und ein Thema für eine andere Gelegenheit, da es den Rahmen sprengen würde. Serbien ist heute das Land mit der grössten Anzahl an Geflüchteten in Europa: über 700'000 Menschen aus Bosnien, dem Kosovo und Kroatien, plus die heutigen neuen Migranten. Die Flüchtlinge aus dem Raum des ehemaligen Jugoslawiens dienten dem Milosevic-Regime lange als Trumpf im Ärmel zur Befriedigung seines inhumanen materiellen Verlangens. Die schiere Unmöglichkeit, die serbische Staatsbürgerschaft zu erhalten, hatte weniger Gegenstimmen bei den Wahlen zur Folge. Ich bin 1995 nach Serbien gekommen, die Staatsbürgerschaft habe ich acht Jahre später erhalten. Heute werden die damaligen Flüchtlinge vor allem an Gedenktagen der militärischen Aktionen erwähnt, welche die Gründe für ihre Flucht nach Serbien waren. Ich denke, niemand kümmert sich um ihre Rechte, nicht in den Neunzigern und nicht jetzt.

Man muss den Blick vom einzelnen Schicksal lösen, wenn man ein breiteres Bild erhalten und die Frage beantworten will, wieso es zu so einer tiefgreifenden Krise kommen konnte, in der die Menschen gezwungen waren und sind, ihre Heimat zu verlassen, um ihr Leben zu retten.
Die Geschichte ist voller Beispiele für Migration. Heutzutage befinden sich über 70 Millionen Menschen auf der Flucht, mehr als je zuvor. Und obwohl die Medien und die Berichterstattung nie so präsent waren wie heute, lassen Misstrauen und Distanzierung nicht nach. Daneben sind wir Zeugen tiefgreifender klimatischer Veränderungen.

Sie haben alles in Einem erwähnt. Die Medien wollen Blut sehen. So füttern sie ihren Markt und ihre Profitgier. Es geht dabei darum, vom Leid zu profitieren und nicht, dieses zu stoppen. Wir werden zu schlechten Menschen. Aber solange es Leute gibt, die ins Feuer gehen, um Unglückliche zu retten, gibt es Hoffnung für die Menschheit.
Und die letzte Frage, diesmal für Sie als Anthropologe: Ist der Mensch in der Lage, sich zu ändern?
Er ist dazu absolut in der Lage, wenn er möchte und es in seinem Interesse ist. Es ist auch eine Frage des persönlichen Mutes. Veränderungen sind wie die Migration Konstanten des Menschseins. Es ist ein persönlicher Entscheid, welche Richtung diese Veränderungen nehmen sollen.

Igor Čoko wurde 1975 in Knin in Kroatien geboren. Der Anthropologe und Ethnologe erforscht fotografisch die Menschen, das Strassenleben und marginalisierte Gruppen in Belgrad. Er hat mehrere Fotobücher veröffentlicht, seine Bilder sind immer wieder in Ausstellungen zu sehen. Igor Čoko lebt und wirkt in Belgrad.

https://igorcoko.net/en/
http://grain.rs

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