10. August 2016 Nafissa Saya
Die Situation der Frauen in Afghanistan hat sich seit dem Sturz der Taliban wenig verbessert. Die Mehrheit der Frauen wird zwangsverheiratet – das ist nur eine von vielen Ungerechtigkeiten.
«Vor dem Frauenhaus hatte ich kein Leben. Hier habe ich Lesen und Schreiben gelernt, sogar einen Beruf. Früher hatte ich kein Geld in der Tasche, jetzt habe ich ein eigenes Konto.» Für die 35-jährige Benafsha aus Kabul hat die Flucht ins Frauenhaus alles verändert.
In Afghanistan haben NGOs seit 2002 in verschiedenen Teilen des Landes Frauenhäuser gegründet. Heute sind es insgesamt 14 Häuser, die Frauen auf der Flucht vor Gewalt Schutz bieten. Diese geschützten Räume sind leider sehr nötig. Afghanistan ist eines der gefährlichsten Länder der Welt. Für Frauen gilt das besonders. Sechzig bis achtzig Prozent der Frauen werden zwangsverheiratet, mehr als die Hälfte davon, bevor sie 16 Jahre alt sind. Wegen des Widerstands traditioneller Politiker war es nicht möglich, Polygamie im Gesetz zu verbieten.
Eine verheiratete Frau gilt als Besitz der Familie. Während sich Männer ohne Einwilligung der Ehefrau scheiden lassen können, braucht eine Frau dafür die Erlaubnis ihres Ehemannes, auch wenn sie von ihm misshandelt wurde. Oft sind Frauen gezwungen, die Kinder der väterlichen Familie zu überlassen. Witwen müssen in der Familie des verstorbenen Mannes heiraten.
Frauen werden wie eine Sache behandelt
Die Frauen in Afghanistan haben einen Berg von Problemen - es wäre oberflächlich, nur über das Kopftuch oder die Burka zu reden. Sie leiden unter körperlicher, sexueller und geistiger Belästigung, täglicher Beschimpfung und Zwangsheirat.
Verbreitet ist auch die Praxis, Mädchen oder Frauen gegen ein Tier zu tauschen. Frauen werden wie eine Sache behandelt. Manchmal werden Mädchen auch weggegeben, um eine Kriminaltat ihres Vaters oder Bruders «wiedergutzumachen». Auf diese Unterdrückung reagieren einige mit Selbstmord, manchmal auch mit Selbstverbrennung. Nur einem kleinen Teil der Frauen ist es gelungen, in Frauenhäuser zu flüchten.
In dreissig Jahren Krieg hat sich Gewalttätigkeit weit in der Gesellschaft ausgebreitet. Dazu kommen falsche Traditionen der afghanischen Gesellschaft. Ich nenne sie beim Namen: Fanatismus. Statt der geltenden Gesetze wenden die Stammesältesten und Imame die Scharia an, das traditionelle islamische Gesetz, das Frauen diskriminiert. Die religiösen Autoritäten in Afghanistan interpretieren den Koran und die Haddith (Aussagen und Werke des Propheten) falsch und geben ihre eigene Meinung als Worte des Propheten aus. Die fundamentalistische Auslegung dient allein dazu, ihre Macht zu erhalten. Das ist in allen islamischen Ländern zu beobachten.
Freiheit ist nur ein Traum
Warum können die Frauen in Afghanistan nicht unabhängig sein? Zuerst einmal sind ihre Bildungsmöglichkeiten limitiert: Viele Frauen können weder lesen noch schreiben. In manchen Gebieten werde Familien, die ihre Töchter zur Schule schicken, bedroht. Wenn die Mädchen trotzdem zur Schule gehen, wird die Schule angezündet. Die Mehrheit der Frauen darf das Haus nur mit Erlaubnis des Ehemanns verlassen und nicht draussen arbeiten.
Frauen gelten als Personen zweiten Ranges. Viele Männer sagen: «Eine Frau kann nicht alles», oder «Frauen sind schwarze Köpfe». Das bedeutet: «Frauen sind schwach.» So werden Frauen von klein an gedemütigt. Sie sind sich nicht bewusst, dass sie in der Gesellschaft eine Rolle haben und können ihre Bürgerrechte nicht verteidigen. Dazu kommt eine grosse Armut. Frei zu leben ist für junge Frauen in Afghanistan nur ein Traum.
In Afghanistan sind Frauen in allen Belangen von Männern abhängig. Werden sie misshandelt, schweigen sie - obwohl brutale Gewalt gegen Frauen häufig vorkommt. Aus traditionellen Gründen ist es ein Tabu, sogar eine Schande, über Gewalt zu reden. Die «Ehre der Familie» steht über allem. Frauen erhalten keinen Schutz durch den Staat. Die Regierung, die Gerichte und die Polizei sind korrupt und fördern patriarchale Gesetze. ZumBeispiel kann ein Mann seine Frau verlassen, ihr aber die Einwilligung zur Scheidung verweigern.
Der einzige sichere Platz für eine Frau ist derjenige an der Seite ihres Mannes. Sie kann ihren Mann nicht verlassen, hat keinen Ort, wo sie hingehen könnte, keine Chance auf staatliche Unterstützung und keine Rechte. Dadurch werden Frauen seelisch krank und schneller alt.
In den letzten Jahren hat sich im Kleinen etwas bewegt. Ab 2001, nachdem die Taliban gestürzt wurden, haben Aktivistinnen und internationale Organisationen begonnen, über gesellschaftliche Probleme zu sprechen. Sie haben die Gewalt gegen Frauen und das bestehende Gesetz kritisiert, zumindest in jenen Provinzen, in denen die Regierung herrscht. Doch Aktivistinnen oder arbeitende Frauen werden immer wieder bedroht oder gar ermordet.
Zudem werden dreissig Prozent des Landes von der Opposition beherrscht, das heisst vom Terrorregime der Taliban. Dort gibt es kein Gesetz, nur die Scharia. Frauen leben quasi unter Hausarrest. Sie werden gesteinigt, ausgepeitscht, Nasen und Ohren werden ihnen abgeschnitten. Aus diesen Gegenden fliehen viele Leute in die Städte oder ins Ausland.
Sind 14 Frauenhäuser genug?
«Die Realität der alltäglichen Gewalt an Frauen ist heute eher noch schlimmer als vor dem Einmarsch der amerikanischen Truppen im Jahr 2001», schreibt AmnestyInternational in einer Reportage über Frauenrechtlerinnen.
Sind in einer solchen Situation 14 Frauenhäuser genug? Natürlich nicht. Es gibt unendlich viel zu tun. Im Kampf um mehr Frauenrechte braucht es insbesondere eine Verbesserung der Lebensbedingungen von Mädchen und Frauen. Sie müssen besseren Zugang zu Bildung erhalten und Auswege aus der Armut finden. Die Gesellschaft muss über Gewalt sprechen und ihre Gesetze ändern.
Wenn eine Frau heiratet, wird ihr gesagt: «Der Platz der Frau ist entweder das Haus ihres Mannes oder ihr Grab.» Das muss sich ändern.
Neue Welle der Gewalt
Richtig Frieden war in Afghanistan seit dem Sturz der Taliban 2001 nie. Doch die Lage hat sich im letzten Jahr dramatisch verschlechtert. Der Alltag in Afghanistan ist lebensgefährlich geworden. 2015 war das gewalttätigste Jahr seit 2001. Die Uno-Mission dokumentiert über 11'000 gewalttätige Vorfälle, welche die Zivilbevölkerung betrafen. Dabei sind 3'545 Menschen gestorben, 7'457 wurden verletzt. Neben dem Terror der Taliban breitet sich auch der Islamische Staat aus. Viele Afghan*innen verlassen ihr Heimatland. In der Schweiz waren sie 2015 die zweitgrösste Gruppe der Asylsuchenden. Martina Läubli