28. Mai 2020 Lucia für die Frauen*gruppe

Häusliche Gewalt und Härtefallpraxis

Das Aufenthaltsrecht von Migrant*innen, die über Familiennachzug in die Schweiz kommen, ist an den Zivilstand gebunden. Trotz häuslicher Gewalt bleiben Betroffene manchmal in bestehenden Beziehungen – aus Angst, ihr Aufenthaltsrecht zu verlieren.

Etwa ein Fünftel aller Frauen in der Schweiz sind von häuslicher Gewalt betroffen. Besonders schwierig ist die Lage von Migrant*innen, die über Familiennachzug in die Schweiz kommen. Ihre Aufenthaltsbewilligung ist an den Zivilstand gekoppelt und somit mit dem Verbleib beim Ehemann verbunden. Viele Migrant*innen geraten durch diese Koppelung des Aufenthaltsstatus an den Ehepartner in eine Abhängigkeit. Denn bei einer Trennung oder Scheidung riskieren sie, die Bewilligung zu verlieren. Aus Angst, ihr Aufenthaltsrecht zu verlieren, bleiben sie in gewaltvollen Beziehungen, sind erpressbar und vulnerabel.

Seit dem 1. Januar 2013 gilt die nacheheliche Härtefallregelung (Art. 50, 2 AIG), um Migrant*innen, die z.B. von häuslicher Gewalt betroffen sind, besser zu schützen. In der Praxis bringt dieser Gesetzesartikel den Betroffenen nicht viel. Die Hürden für die Einreichung sind sehr hoch, der Ermessenspielraum der Behörden gross. Zudem werden nach wie vor nur sehr wenige Härtefallbewilligungen erteilt (2017 waren es 60). 


Etwa ein Fünftel aller Frauen in der Schweiz sind von häuslicher Gewalt betroffen. Besonders schwierig ist die Lage von Migrant*innen.


Auch wenn gemäss einem Bundesgerichtsurteil jede Form der häuslichen Gewalt, sei sie körperlicher oder physischer Natur, ernst zu nehmen ist, muss die Gewalt – laut Gesetz – eine gewisse Intensität aufweisen: Sie müsse derart intensiv sein, dass die physische oder psychische Integrität der Betroffenen im Falle der Aufrechterhaltung der ehelichen Gemeinschaft schwer beeinträchtigt würde. Ein gelegentliches Anschreien in ehelichen Krisensituationen oder eine einzige Ohrfeige begründe keine solche Situation (vgl. BGE 136 II 1. E. 5; BGer 2C_155/2011 E. 4.3).

Bei häuslicher Gewalt wird also zwischen zwei Gruppen unterschieden: Fälle mit einer «gewissen» Intensität und Fälle ohne diese Intensität. Diese Unterscheidung ist problematisch, denn so wird ein gewisses Mass an Gewalt (an Migrant*innen) durch den Staat legitimiert. So lange die Gerichte die Rechtsprechung diesbezüglich nicht anpassen, bleibt der Ermessensspielraum der kantonalen Behörde gross.

Gewalt ist nicht nur physische Gewalt

Immer noch werden wissenschaftliche Erkenntnisse zu häuslicher Gewalt (typische Mechanismen, Gewaltmuster etc.) von den kantonalen Migrationsämtern und anderen Institutionen wie Spitälern zu wenig oder gar nicht berücksichtigt. Entscheidet sich etwa eine Betroffene – aus Angst oder weil das Vertrauen in die Behörden fehlt –, keine Anzeige zu machen oder trotz erlebter Gewalt beim Ehemann zu bleiben, wird das oft zu ihrem Nachteil ausgelegt. Auch wird häusliche Gewalt häufig mit physischer Gewalt gleichgesetzt, die sich durch Verletzungen beweisen lässt.

In der Forschung und Praxis zeigt sich hingegen, dass häusliche Gewalt oft viel subtilere Formen kennt. Dazu gehören gezielte und anhaltende Einschüchterungen, Abwertungen, Drohungen oder Verbote von sozialen Kontakten. Die vielen Fälle aus der Praxis widerspiegeln leider, dass die Migrationsbehörden diese Erkenntnisse nur sehr wenig oder gar nicht berücksichtigen. In erster Line sind die Ämter misstrauisch gegenüber Migrant*innen, welche ihre Rechte einfordern. Die Umsetzung einer restriktiven Migrationspolitik, also die Kontrolle und Regulierung der ausländischen Bevölkerung, steht über allem.


Häusliche Gewalt kennt subtile Formen: Gezielte und anhaltende Einschüchterungen, Abwertungen, Drohungen oder Verbote von sozialen Kontakten.


Ein weiteres Problem sind die zu erbringenden Beweismittel. Auch wenn die Person die Gewalt per Gesetz nicht direkt beweisen muss, muss sie diese den kantonalen Migrationsbehörden glaubhaft machen. «Glaubhaft machen» ist bei häuslicher Gewalt sehr schwierig. Die Übergriffe lassen sich nicht systematisch dokumentieren. Nur wenige schaffen es, sich unmittelbar nach einer Gewalttat Unterstützung zu holen.

Gründe dafür sind grundsätzliches Misstrauen von Institutionen gegenüber Frauen, die Gewalt erleben (Victim blaming), fehlender Zugang zu Recht oder zu Beratungsstellen, Angst etc. Selbst wenn die Betroffenen den Mut aufbringen, aus der Gewaltsituation auszubrechen und sich Hilfe zu holen, scheint das den kantonalen Migrationsbehörden häufig nicht zu genügen.

Migrationsbehörden müssten Zahlen liefern

Hinzu kommt die grosse Skepsis gegenüber Berichten von Frauenhäusern oder Beratungsstellen. Dies wird in Schreiben vom Migrationsamt an Betroffene deutlich. In einem uns bekannten Fall lagen verschiedene Berichte von Ärztinnen, dem Frauenhaus und Einvernahmeprotokolle vor. Weil aber Fotos von den Verletzungen, eine ärztliche Konsultationen unmittelbar nach der Gewalttat oder eine rechtmässige Verurteilung des Ehemanns fehlten, wurde die erlittene Gewalt vom Migrationsamt als nicht glaubhaft abgetan.

Problematisch ist auch das Fehlen von genauen Zahlen zu eingereichten Gesuchen, Ablehnungen und Rekursen. Damit die Situation überhaupt beurteilt und Massnahmen getroffen werden können, müssen die Migrationsbehörden Zahlen vorlegen. Dies entspräche dem Grundprinzip eines demokratischen Staates gemäss dem Öffentlichkeitsgesetz. Dass diese Zahlen bis jetzt nicht erhoben worden sind, zeigt, wie wenig Bedeutung die Kantone dem Thema «nachehelicher Härtefall» bzw. «Gewalt an Migrant*innen» beimessen.

Gewaltbetroffene Migrantinnen sind mit grossen Hürden konfrontiert, gerade wenn es darum geht, einen nachehelichen Härtefall geltend zu machen. Viele können trotz erlittener häuslicher Gewalt ihren Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung nicht nachweisen und riskieren, das Land verlassen zu müssen. Einzig eine unabhängige Aufenthaltsbewilligung, welche nicht an den/die Ehepartner*in gekoppelt ist, kann sie besser schützen.

Das sind die wichtigsten Beratungsstellen in Fällen von häuslicher Gewalt:

FIZ Beratung für Migrantinnen
https://www.fiz-info.ch/de/FIZ-Angebot/Beratung
044 436 90 00

BIF Beratungsstelle für Frauen gegen Gewalt in Ehe und Partnerschaft
https://bif-frauenberatung.ch/
044 278 99 99

Frauenberatung sexuelle Gewalt
https://www.frauenberatung.ch/
044 291 46 46

Frauenhäuser
https://www.frauenhaus-schweiz.ch/

für Zürich
https://www.frauenhaus-zhv.ch/
24-STD-HELPLINE 044 350 04 04

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