4. Juli 2023 Abuelo Lobo
Der folgende Bericht stammt von «Abuelo Lobo», einem Mitglied eines Komitees, und soll einige Erfahrungen wiedergeben, die er bei seinem Kampf für die Umwelt gemacht hat.
Kapitel 1: Die Vorgeschichte. Das Komitee
In Veracruz, Mexiko, schloss sich vor einigen Jahren eine kleine Gruppe junger Leute und ein Ehepaar zusammen, um die Umwelt zu schützen. In diesem Jahr trat sie an die Öffentlichkeit und prangerte den Ökozid im Hügel eines Nebelwaldes an. Dieser Hügel ist ein Naturreservat und steht unter gesetzlichem Schutz. Doch der Bürgermeister fällte Bäume und schlug Strassen in den Regenwald, was verboten war. Es kümmerte ihn nicht, dass er damit gegen die Umweltgesetze verstiess.
Um die Umweltrechte geltend zu machen und die Öffentlichkeit über die Umweltzerstörung zu informieren, legten die Aktivist:innen die Erklärung des ökologischen Reservats dar und zeigten die Grenzen des Schutzgebietes auf. Dies erregte die Aufmerksamkeit der Bevölkerung, so dass der Bürgermeister gezwungen war, diese Handlungen zu stoppen, für die Wiederaufforstung zu bezahlen und öffentlich um Entschuldigung zu bitten, da er dieses Biotop zu seinem persönlichen Vorteil missbraucht hatte. Das Komitee informierte die örtliche Bevölkerung auch weiterhin über die vielfachen Verletzungen des Umweltschutzes und darüber, wie sich Politiker durch den Verkauf natürlicher Ressourcen bereicherten. Den Machthabern wurde dies lästig. Es kam zu einer Welle von Drohungen und Schikanen durch die städtische Sicherheitsbehörde. Trotzdem setzte das Umweltkomitee die Arbeit fort.
Auch an anderen Orten des Bundesstaates wurde die städtische und ländliche Umwelt ausgebeutet. Es wurde illegal Holz geschlagen, vom Aussterben bedrohte Tiere wurden verkauft, Hügel in ökologischen Schutzgebieten wurden gesprengt, um Zementfabriken zu errichten, und Petróleos de Mèxico (PEMEX), ein staatlicher Mineralölkonzern, liess einen natürlichen Flusslauf verändern, was wiederum den Grundwasservorrat verschwinden liess. Am 17. November 2009 reichte das Umweltkomitee eine Klage gegen die Bundesregierung ein – wegen Beschädigung des historischen Erbes und eines ökologischen Reservats.
Im selben Jahr wollten die Aktivist:innen Schildkröten befreien. Auf dem Weg zu diesem Einsatz wurden sie von einer grossen Polizeitruppe aufgehalten, in Diskussionen verwickelt und herumgeschubst. Mehrere Kamerad:innen wurden aus der Gruppe entfernt, einige wurden geschlagen – die Polizisten wollten herausfinden, wer der Anführer war. Einige andere, die sensibler oder rebellischer zu sein schienen, wurden vor unseren Augen misshandelt und auf den Körper und ins Gesicht geschlagen. Plötzlich erklang der Ruf «Lauft!». Es gelang der Gruppe, den Bus zu verlassen und mit den verletzten Kamerad:innen zu fliehen. Sie wurden von der lokalen Bevölkerung in Lieferwagen ins Spital gebracht. Doch die Behandlung wurde ihnen verwehrt, weil die Spitalangestellten Probleme mit der Regierung fürchteten. Erholen mussten sich die Verletzten in Privathäusern. Nach dem Vorfall versuchten die Umweltschützer:innen, öffentlich bekannt zu machen, was ihnen passiert war. Aber die Radiostationen und Zeitungen schickten sie weg – aus dem gleichen Grund wie beim Spital.
Kapitel 2: 2009
Unser Informant X ist gerade an der Universität, als ein Kollege auf ihn zugerannt kommt.
Kollege: «Hey, in den Büros fragen Polizisten und Soldaten nach dir.»
X: «Warum?»
Kollege: «Es sind Beamte der Bundespolizei, in den Transportern sind noch mehr von ihnen. Los, verschwinde!»
Ohne zu zögern, geht X aus dem hinteren Teil des Gebäudes, wo er von zwei Polizisten angehalten wird.
Polizist 1: «Kennen Sie diese Person (nennt seinen Namen)?»
X: «Ja! Er hat jetzt gerade Unterricht im Raum unten, ich bin mit ihm in dieser Klasse und habe ihn kommen sehen.»
Polizist 2: «Sagen Sie ihm, dass wir mit ihm sprechen wollen.»
X: «Moment, ich muss zuerst noch Kopien für die Klasse machen.»
X setzt seinen Weg fort und verlässt die Universität an einer Strassenecke, an der viel los ist. Auch da stehen Soldaten, also muss er noch ein Stück weitergehen, bis er ein Taxi zum Busbahnhof nehmen kann. Dort bittet er Freunde, ihr Telefon benutzen zu können, um seinen Angehörigen mitzuteilen, dass er für eine Weile weg sein werde, da er zum Patronatsfest einer Gemeinde eingeladen sei. Ein Mitstudent informiert ihn, dass man seine Dokumente aus der Fakultät mitgenommen habe und dass die Polizisten die anderen Student:innen über seinen Charakter, sein Verhalten und seine Pläne befragt haben.
Kapitel 3: Ich erinnere mich nur an das Schlagen meines Herzens
Seine Freunde, bei denen er untergekommen ist, fragen ihn, ob er etwas Böses getan habe. X sieht besorgt und unsicher aus, sein Gesichtsausdruck ist verändert. Eines Tages geht er zum Einkaufen in die Stadt und als er zurückkommt, bemerkt er den Verkehr und das hektische Treiben auf der Strasse. Das ist seltsam, in diesem Dorf passiert das sonst nie. Dann entdeckt er die Soldaten, die die Busse durchsuchen. Also steigt er aus und läuft in Richtung der Berge. Einige Zeit später wird bekannt, dass eine zapatistische Karawane – eine Karawane organisierter, autonomer, rebellischer, indigener Gruppierungen – durch die Gegend gezogen war und dass deshalb Soldaten und Infiltratoren platziert wurden.
X erzählt: «Ich ging, ohne mich umzudrehen. Mein Herz raste. Vor lauter Angst merkte ich nicht, wie weit weg ich schon war. So viele Ideen schossen mir durch den Kopf, so viele Möglichkeiten, wie sie mich töten würden, wenn ich allein war. Das kleinste Geräusch liess mich zusammenzucken. Trotzdem ging ich weiter. Es wurde Nacht und sehr kalt, meine Füsse waren schwer, meine Augen wollten zufallen. Aber meine Gedanken und mein Herz sagten mir, dass ich weitergehen musste. Ich legte mich an den Strassenrand, bedeckte meinen Körper mit ein paar Blättern und versuchte zu schlafen.
Ich schloss und öffnete meine Augen, über mir schien die Sonne, und ich blieb still. Ich hatte das Gefühl, dass sich überall Polizisten und Soldaten versteckten, und ich befürchtete, wenn ich mich bewegte, würden sie mich finden. Ich hörte nichts, nur die starken Schläge in meiner Brust, also stand ich auf und rannte, bis ich mich sicher fühlte. Meine Schritte wurden langsam und ich ging die Berge hinunter, ich sah Leute auf dem Feld arbeiten, und ihre Blicke schienen mir zu sagen, dass sie mich verurteilten und dass sie zur Polizei gehörten. Ich hatte Angst, dass sie die Polizei verständigen würden und diese dann angerannt käme
Ich ging, ohne mich umzudrehen. Mein Herz raste
Ich ging weiter und kam an einen Bach, ich trank Wasser und ging in einen Wald, ich dachte daran, zu schlafen, weil ich nachts nicht schlafen konnte, also nahm ich wieder ein paar Blätter und deckte mich damit zu. Das Heulen eines Kojoten weckte mich, aber ich dachte, es wären Hunde, und ihre Besitzer hätten die Soldaten gerufen. Ich stand schnell auf und ging weiter. Der Weg veränderte sich, nun fand ich Obstbäume, deren Früchte ich beim Gehen verschlingen konnte. Ich war von der fixen Idee angetrieben, weiterzugehen, um zu überleben.
Ich erinnere mich nicht mehr an die Anzahl der Sterne oder an den Sonnenaufgang, ich erinnere mich nur an das starke Schlagen meines Herzens und die Angst, die von mir Besitz ergriffen hatte, bis hin zum Gedanken, mich in eine Schlucht zu stürzen. Tief in mir war Kälte. Ich wusste nicht, ob sie von aussen kam oder von der Angst vor dem Sterben. Das Leben ist merkwürdig: Manchmal will man sterben, aber wenn dann eine Gelegenheit dazu eintritt, überlegt man es sich zweimal und zögert.
In der Ferne hörte ich das Gemurmel eines Mannes, der seine Ziege trug. Ich konnte mich nicht verstecken, also sah er mich und grüsste mich :‹Guten Morgen, Junge.› Ich schwieg, mein Herz flatterte, weil ich dachte, er würde eine Waffe ziehen. ‹Hast du Hunger?› Er liess sein Tier herunter und sagte: ‹Ich bringe Käse und Milch, willst du?› Ich konnte ihm nur mit einem Nicken antworten. Er sagte mir, es sei seltsam, Menschen an diesem Ort zu sehen. Hier sei es nicht sicher, die Leute verirrten sich oder verunfallten tödlich, weil der Weg sehr rutschig sei und sie die Klippe hinunterfielen.
Ich beobachtete ihn genau, da ich nicht wusste, ob er Freund oder Feind war. Er sagte, weiter unten an der Strasse sei die Polizeistation, dort könne man mir helfen, falls ich mich verlaufen hätte. Ich antwortete, dass meine Familie in einem Hotel auf mich warte; ich sei nur früh rausgegangen, um zu wandern. Ich würde nun hinuntergehen. Ich bedankte mich für seine Geste, begann zu laufen und versuchte mich währenddessen an meinen Namen und meinen Geburtsort zu erinnern.
Bei Sonnenaufgang öffnete ich meine Augen und hatte eine unglaubliche Aussicht. Ich seufzte, sagte laut meinen Namen, und dann: ‹Es ist Zeit, nach Hause zu gehen.› Als ich zur nächsten Landstrasse hinabstieg, konnte ich kaum glauben, wo ich mich befand: So weit war ich gelaufen, um die Erde zu verteidigen. Die Rückfahrt per Autostopp dauerte acht Tage.
Später erzählten mir meine Freunde im Dorf, aus dem ich geflohen war, dass die Soldaten noch am gleichen Tag gekommen waren und sie mitgenommen hatten, weil sie mich beherbergten. Als ich nicht zurückkam, dachten meine Freunde das Schlimmste. Währenddessen trieb mich die Angst dazu, vier Monate lang durch die Wälder zu streifen. Als ich im November zurückkehrte, war in meinem Zimmer alles durcheinander, die Bücher zerrissen, die Schränke ausgeräumt, die Fotos fehlten, meine Schriften waren verschwunden, es gab keine Notizbücher, alles war zerstört. Ich dachte darüber nach, was es kostet, die Menschen zu informieren. Ich dachte an all die Gruppen, die sich für den Schutz des Lebens in all seinen Erscheinungsformen einsetzen, und an ihre Kämpfe.»
Kapitel 4: Felipe und Adriàn, meine ständigen Begleiter
Die Glocke läutete. Ich ging hinunter, um die Tür zu öffnen, doch da wurde sie bereits aufgestossen. Zwei als Zivilisten verkleidete Männer kamen herein, zwangen mich auf den Boden und sagten mir, sie seien gekommen, um mich zu töten, weil ich den Held gespielt und mich versteckt hätte.
Ich erinnere mich daran, dass ich sie bat, mich in Ruhe zu lassen. Ich sagte ihnen, dass sie bereits alles zerstört hätten und ich so nicht sterben wollte: Meine Freunde hatten mich zu ihrem eigenen Wohl allein gelassen, an der Universität bekam ich keine Unterstützung, ich war allein. Die Männer sagten, dass sie in den nächsten sechs Jahren auf mich aufpassen würden, weil sie keine Unruhen und erst recht keine Umweltschützer:innen wollten.
Sie zogen mich vom Boden hoch, und von da an musste ich meine Tage mit diesen beiden «Soldaten», Beauftragten vom Militär, teilen. Beim Essen, bei Ausflügen, Veranstaltungen oder Demonstrationen: Immer waren sie in meiner Nähe. Das war ungemütlich. Oft machten sie eine «Runde», um ihren Informanten zu treffen, der sie über Demonstrationen informierte und ihnen Adressen und Hinweise über Umweltschützer:innen gab. Der Informant war ein Junge wie ich. Auch er wurde überwacht, durfte sich aber frei bewegen, solange er Informationen über Proteste und regierungskritische Gruppen weitergab. Ich war sehr neugierig, wer diese Person war. Vielleicht hatte er auch Informationen über die Arbeit unseres Umweltkomitees weitergegeben. Die Tage vergingen und die zwei Soldaten sagten mir immer wieder: «Wenn du irgendetwas tust, du Idiot, wirst du büssen.» Ich war auf Demonstrationen und wollte herausschreien, dass meine beiden Begleiter Infiltratoren waren, aber mit einer Waffe im Rücken war das keine gute Idee.
Ich verkaufte auch Kunsthandwerk an verschiedenen Orten, sie beobachteten mich immer. Eines Tages kaufte mir Felipe ein Paar Ohrringe für seine zukünftige Frau ab. Zum ersten Mal nach ein paar Monaten sprachen wir miteinander.
Felipe: «Wie hast du gelernt, Ohrringe zu machen?»
Ich: «Freunde haben es mir beigebracht, vor langer Zeit. Ich habe ihnen mit den Ohrringen geholfen, damit sie Zeit für aufwändigere Handarbeiten hatten.»
Felipe: «Machst du das, weil es dir gefällt, oder weil du nicht weisst, was du sonst machen sollst?»
Ich: «Es gefällt mir. Aber die Idee war, damit etwas dazuzuverdienen. Du weisst schon, wegen meiner Freundin und der Kopien für die Fakultät.»
(Ich dachte, er wolle mehr Informationen über andere Gruppen herausholen und mache deshalb auf Freund, also versuchte ich, mich mit einer harmlosen Antwort herauszureden.)
Felipe: «Hör mal, warum hast du eigentlich mit diesem Zeug über die Gesetze der Erde und dem ganzen Schwachsinn angefangen?»
Ich: «Ich glaube nicht, dass es Blödsinn war. Ich dachte, ich würde das Richtige tun.»
Felipe: «Du bist ein kompletter Schwachkopf. Du weisst gar nichts und glaubst, du weisst alles.»
Ich: «Sei nicht sauer. Ich habe dir nur meinen Standpunkt mitgeteilt, damit du wenigstens weisst, warum du hier bist und mich bewachst.»
In diesem Moment kam Adriàn und sagte, Felipe solle nicht mit mir reden, denn ich sei ein Feind. Ihr Job sei beendet, wenn ich rede oder sie mich zum Schweigen bringen. Trotzdem sprach ich manchmal ein bisschen mit Felipe. Eines Tages plauderten wir über den Sinn des Lebens; darüber, sich selbst zu offenbaren; darüber, dass das, was man gut macht, gefährlich sein kann. Manchmal hörte ich vom Infiltrator, sie nannten ihn JR. Als ich eines Tages mit Felipe sprach, fragte ich ihn nach dem Spitzel; ich wollte wissen, ob er etwas über mich gesagt oder andere Kameraden verraten hat. Aber es gab nie eine Antwort, nur ein «Vielleicht».
Eines Tages brachten sie mich in einen Raum und liessen mich in Handschellen zurück. Felipe sagte zu mir: «Sprich nicht, sei still, wir sind gleich wieder da.» Sie bedeckten mein Gesicht, und ich fragte mich: Werden sie mich töten? Nach einer langen Zeit hörte ich, dass irgendwelche Personen die Tür öffneten und fragten: «Geht es dir gut?» Ich antwortete: «Wer seid ihr?» – «Wir gehen jetzt, wir sind hier fertig.» Am nächsten Tag hörte ich, dass einige junge Leute unterhalb des Regierungspalastes demonstriert und den Gouverneur verspottet hatten. Adriàn sagte, sie sollten auf alles gefasst sein und darauf achten, was JR sagte. Felipe meinte, dass JR ihnen Informationen über ein Treffen in Mexiko-Stadt geben würde. Dort wollten sie mehrere Genoss:innen aus sozialen Bewegungen verhaften.
Adriàn sagte mir, dass Felipe für eine Weile nach Mexiko-Stadt gehen müsse. Er selbst bleibe für mich verantwortlich. Ausserdem würde jemand anderes kommen, um mich zu bewachen. Er nannte sich Fili, er war aus Guerrero, er war ziemlich aggressiv und sprach schlecht über alle. Er sagte, dass «Julian» nicht vertrauenswürdig sei und er sie mit den Informationen vielleicht betrügen würde. Felipe entgegnete, er solle den Mund halten und keine Namen nennen, woraufhin Fili meinte, dass sowohl JR als auch ich nicht am Leben sein dürften. Wenn wir der Regierung im Weg stünden, sollten sie uns eliminieren und nicht länger ihre Zeit verschwenden. Darauf antwortete Felipe, dass ich in Haft sei, um nicht noch mehr Lärm zu machen und noch mehr Gruppen zu bilden. JR sei so lange Informant, bis er nicht mehr gebraucht werde.
In den Jahren danach liessen sie mich mehr und mehr allein. Ich dachte darüber nach, was ich tun sollte und wie ich es tun sollte. Ich wurde in einigen Medien aktiv und nahm eine Arbeit innerhalb des politischen Systems an mit dem Ziel, das Bewusstsein für Umweltthemen zu wecken. Eines Tages kam Felipe zu mir, er war traurig und verzweifelt und erzählte mir, dass seine Frau krank sei. Sie seien bei mehreren Ärzten gewesen, doch sie konnten gegen ihre Kopfschmerzen nichts tun. Ich riet ihm, dass sie zu einem Spezialisten gehen sollten, und es stellte sich heraus, dass die Frau schwanger war und unter schwerer Migräne litt. Einige Monate später erzählte mir Felipe, dass er Vater geworden sei, und ich gratulierte ihm. Er erzählte mir, dass er darüber nachdenke, aus der Armee zu desertieren, um sich besser um seine Frau und sein Kind kümmern zu können. Er wolle nicht dauernd mit mir zusammen sein, sondern mehr Zeit mit seiner Familie verbringen.
Drei Jahre vor dem Ende unserer sechs gemeinsamen Jahre begann auch Adriàn, mir ein wenig von seinem Leben zu erzählen. Er erzählte mir von seinen Kindern, dass es ihnen gut gehe und er stolz auf sie sei; von seiner Frau, die er sehr liebe; und dass sie vorhätten, in den Urlaub an den Strand zu fahren. Er fragte mich, ob ich einen Ort wüsste, wo er seine Familie hinbringen könne. Doch ich hatte in sechs Jahren den Kontakt zu allen verloren.
«Warum tust du das?», fragte mich Adriàn, nachdem ich mich an einen alten Baum gebunden hatte, damit er nicht gefällt wurde. Ich sagte ihm, dass der Baum ein Lebewesen sei und dass die Jahre, die er verbracht habe, um sehr gross zu werden, ihn wichtig gemacht hätten. Adriàn antwortete, das sei doch nur Fantasie, worauf ich entgegnete, dass es für einige vielleicht nur eine Fantasie sein möge, aber für mich der Baum eine grosse Bedeutung habe. Ein Baum repräsentiere viele Dinge, sogar das Leben selbst, da der Samen auf den Boden falle, die Nährstoffe aufnehme und zu wachsen beginne. Das sei gleichbedeutend mit der Schwangerschaft, und der Mensch habe eine metaphorische Ähnlichkeit mit dem Baum.
Die Tage vergingen, ich hatte Zeit, am Fluss und im Wald spazieren zu gehen, einige Gedanken aufzuschreiben und viele Fragen zu beantworten. Die wichtigste war: Warum bin ich noch am Leben? Was ist der Sinn meines Lebens? Wäre es gut, meine Geschichte zu verbreiten? Ich traf einige Bekannte aus der Schule, und sie fragten mich, was mit mir los sei, ob ich verreist war. Sie hatten mich seit einiger Zeit nicht mehr gesehen. Da erzählte ich ihnen von meiner Erfahrung und über die letzten Jahre. Aber sie glaubten nicht, was mit mir geschehen war. Ihr Spott und die Tatsache, dass ich am Leben war, sprachen dagegen.
Doch da sagte Felipe plötzlich: «Alles ist deine Schuld!» Er holte seine Pistole hervor und richtete sie auf mich.
Das brachte mich zur Erkenntnis, dass niemand meinen Erlebnissen Glauben schenken würde. Also zog ich es vor, ein von meiner Vergangenheit unabhängiges Leben zu führen und in Ruhe über diese Dinge nachzudenken. Ich arbeitete als Aktivist, aber aus einer anderen Perspektive – zum Beispiel, indem ich relevante Daten über das, was in Mexiko passiert, bekanntmachte. Ich wollte in Ruhe leben, ohne Angst, dass man mich umbringen könnte. Das wünschte ich mir, weil Felipe und Adriàn mir von ihren Familien erzählten. Eines Tages wollte ich auch in der Lage sein, «meine Kinder» zu sagen.
In den letzten zwei Jahren besuchten mich Felipe und Adriàn alle drei Monate, um meine Notizen, meine Bücher und meine Projekte zu überprüfen. Aber alles war sauber, wie sie sagten. Es gab keine Anzeichen für eine Gruppierung oder etwas, das ihren Arbeitgebern schaden könnte. An einem dieser Besuche im letzten Jahr kamen sie zu mir nach Hause, Felipe kam zu spät und war wütend. Sie überprüften meine Sachen, wie sie es alle drei Monate taten, und befanden alles für sauber. Doch da sagte Felipe plötzlich: «Alles ist deine Schuld!» Er holte seine Pistole hervor und richtete sie auf mich. Adriàn gab ihm den Befehl, die Pistole wegzulegen.
Felipe sagte, dass er alles verloren habe, und dass alles meine Schuld sei. In diesem Moment begann er zu weinen. Ich tat keinen Wank. Ich sah nur, wie ein Mann mein Leben in der Hand hielt und dass sich wegen seiner Emotionen mein ganzes Leben ändern könnte. Adriàn nahm ihm die Waffe ab und gebot ihm zu gehen, woraufhin Felipe sich bei mir entschuldigte. Er verriet mir, dass seine Frau gestorben sei. Er habe viel zu wenig Zeit mit ihr verbringen können, weil er mich bewachen musste. Dann sagte er: «Ich verstehe, dass es nicht deine Schuld war», stand auf, umarmte mich und ging.
Felipe kam nicht mehr zurück. Adriàn sagte mir, dass er ihn bestrafen würde. Ich erinnerte mich, dass Felipe gesagt hatte, dass er desertieren wolle, also wusste ich, dass ich ihn nie wiedersehen würde. Am letzten Tag der Überwachung kam Adriàn und sagte mir, dass er heute nichts kontrollieren werde. «Ich bin nur gekommen, um mich zu verabschieden. Ich bin befördert worden und muss verreisen. Du bist frei. Alles ist vorbei, wir werden uns nie wiedersehen.» Und er fügte hinzu, ich solle nicht mehr versuchen, «Dummheiten» zu machen. Denn nach ihm würde ein anderer kommen, und der würde mich vielleicht nicht nur bewachen, sondern töten. Adriàn war eine gewissenhafte Person. Er nahm seine Aufgabe sehr ernst. Ich hatte nicht viel mit ihm gesprochen, ich wusste nicht viel über ihn, aber er reichte mir die Hand und sagte: «Pass auf dich auf, Junge, und mach keine Dummheiten.» Er lächelte, drehte sich um und ging.
In all den Jahren habe ich Ungewöhnliches gespürt. Das Alleinsein und die dauernde Überwachung schaden einem als Mensch sehr. Später begab ich mich bei einer Psychologin namens Ana in Behandlung. In diesen Monaten habe ich mich selbst wiedergefunden. Ich verstand, dass ich mich neu orientieren musste. Ana sagte mir, dass ich einige der Dinge, die ich jetzt noch nicht verstehe, im Laufe der Zeit entdecken werde.
Viele Details behalte ich noch für mich, weil ich der Meinung bin, dass sie immer noch Gefühle hervorrufen, die geheilt werden müssen. Der Sternenhimmel ist für mich nicht mehr derselbe, und jedes Mal, wenn die Luft über mein Gesicht streicht, steigen Erinnerungen an kalte Nächte auf, in denen ich mich allein wiederfand. Jetzt, an einem neuen Ort, habe ich vor, zu wachsen und grosse Freundschaften zu schliessen.
Mir wurde gesagt, dass meine Geschichte anderen Menschen oder Gruppen zum Nachdenken verhelfen könnte. Ich weiss nicht, ob dem so ist. Aber ich bin sicher, dass man durch persönliches Wachstum die richtigen Leute erreicht, um seine Projekte zu starten, immer mit dem Ziel, das Leben in all seinen Erscheinungsformen zu verteidigen.
Dieser Text ist meinen Schwestern und Brüdern gewidmet, die für ihren Kampf für den Schutz der Umwelt in Mexiko getötet worden sind – seit Januar 2022 waren es über hundert Fälle, die ich kenne: Euch, den Sprecherinnen und Sprechern der Flüsse, der Dschungel und der Berge, den unermüdlichen Verteidigern des Lebens in all seinen Erscheinungsformen, den Männern und Frauen der Medizin, den freien Jungen und Mädchen, euch gelten meine Erinnerungen und mein Gedenken.
Übersetzung: Martina Läubli