10. August 2016 Interview: Miriam Meyer und Mischa Brutschin (M/M)

«In der Schweiz lachen alle mit dir. Aber wenn es Wahlen gibt, werden sie dich sehr, sehr stark schlagen»

Mamadou Dabo war ASZ-Aktivist. Nachdem sein Asylgesuch abgelehnt wurde, kehrte er in seine Heimat zurück. Im Interview, das vor seiner Abreise geführt wurde, äussert er sich zur Schweiz und ihrer Asylpolitik – aus eigener Erfahrung.

M/M: Du hast dir viele Gedanken zur Schweizer Asylpolitik gemacht. Was ist deine Meinung dazu?

Mamadou Dabo: Ich habe festgestellt, dass die Schweizer Asylpolitik nicht nach den Regeln des Rechts abläuft. Die betroffenen Menschen bekommen keine Möglichkeit, sich vor den Richter*innen zu erklären. Wenn sie einen negativen Asylentscheid erhalten haben, müssten sie dann nicht zusammen mit ihren Anwält*innen vor die Richter*innen treten können? So geschieht dies in anderen Ländern. Aber hier entscheiden sie in deiner Abwesenheit über dich, und dein*e Anwält*in ist auch nicht dabei. Wie kann in einem zivilisierten Land so etwas als normal gelten? Man kann doch über niemanden in seiner Abwesenheit richten! Bei uns – in unserem Rechtsverständnis – nennen wir das ein ungültiges Urteil (jugement à défaut), weil die rekurrierende Partei nicht anwesend ist. So kannst du kaum gewinnen, die Niederlage ist vorgezeichnet.
Gleichzeitig wird uns vorgegaukelt, die Rechte der Migrant*innen würden nicht verletzt. Es gehe alles ganz normal und gerecht vor sich. Zu deiner Befragung laden sie NGOs als Beobachter*innen ein. Und sie sagen, du hast ein Recht auf eine*n Anwält*in, selbst wenn du einen negativen Entscheid erhältst und mittellos bist. Sie geben uns Adressen von Anwält*innen. Aber das sind keine Anwält*innen, die uns verteidigen. Jene, welche sich im Asylrecht auskennen, arbeiten oft bei NGOs. Die Anwält*innen, die uns die Migrationsbehörden vermitteln, nehmen dein Geld, obwohl sie wissen, dass du keine Chance hast. Du hast keine Möglichkeit, dich irgendwo über diese Ausbeutung zu beschweren. Eine solche Stelle gibt es in diesem Land nicht, soviel ich weiss.


Die Migrant*innen werden in einem Milieu der Angst gehalten. Wer von Angst erfüllt ist, hat keinen weiten Blick, er sieht nur das, was am nächsten liegt.


Die Migrant*innen werden in einem Milieu der Angst gehalten. Wer von Angst erfüllt ist, hat keinen weiten Blick, er oder sie sieht nur das, was am nächsten liegt. Das finde ich nicht in Ordnung. Welches Gesetz gibt dir das Recht, über eine Person in ihrer Abwesenheit zu richten? Selbst über eine*n Mörder*in entscheidet das Gericht in Anwesenheit. Was wir dagegen unternehmen können, ist Ameisenarbeit: Wir können Unterschriften in allen Asylzentren von Zürich sammeln, um auszudrücken, dass unsere Rechte verletzt werden. Vielleicht können wir mit diesen Unterschriften etwas bewegen. Im Moment ohrfeigen sie das Recht.

M/M: Was denkst du über die Politiker*innen in der Schweiz? Sie sind es ja, welche die Asylpolitik machen.

MD: Wenn sie ehrlich wären – im Allgemeinen sind Politiker*innen nicht ehrlich – müssten sie dazu stehen, dass sie Angst unter ihren Wähler*innen säen, indem sie sagen, die Migration sei mit dem Banditentum verhängt. Gleichzeitig wissen sie tief in ihrem Inneren, dass die Wirtschaft zusammenbrechen würde, wenn alle Migrant*innen zwei Minuten lang nicht arbeiten würden. Alle ausländischen Arbeiter*innen müssten nur zwei Minuten lang ihre Finger kreuzen und die Arbeit niederlegen. Die Schweiz hat eine starke Wirtschaft, aber es fehlen ihr die Arme, um die Arbeit zu machen. Deshalb braucht sie die Migrant*innen. Und die Politiker*innen wissen das. Aber sie spielen mit dem Thema Migration, um die Wahlen zu gewinnen. Sie fördern diese Angst, die im Grunde nichts mit der Migration zu tun hat. Die Bäuer*innen, zum Beispiel, sie haben in der Regel wenig direkte Probleme mit der Migration. Ich kenne kaum Migrant*innen, die ihr eigenes Stück Land bewirtschaften. Das Land gehört den Schweizer*innen. Das heisst, sie müssten keine Angst davor haben, dass Migrant*innen den Bäuer*innen das Land stehlen. Die Migrant*innen sind für sie keine Konkurrenz. Die Migrant*innen werden in einem Milieu der Angst gehalten. Wer von Angst erfüllt ist, hat keinen weiten Blick, er sieht nur das, was am nächsten liegt. Die Migrant*innen sind auch sonst wichtig. Ohne Konsum funktioniert keine Wirtschaft. Wenn man die Statistiken ansieht, was gekauft wird – die grössten Konsument*innen sind die Migrant*innen.


Es gibt niemanden, der es wagen würde, von diesem Gleichgewicht zu sprechen: Die Migrant*innen bringen der Schweiz so und so viele Millionen.


Die schönen grossen Autos, die du siehst, gehören ihnen, egal, ob sie aus Europa oder andern Gegenden kommen. Sie halten die Wirtschaft in Schwung. Die «echten» Schweizer*innen konsumieren wenig. Wenn es nur auf die Schweizer*innen ankommen würde, dann würde die Milch nicht gekauft und das Fleisch nicht. Für wen machen sie dann ihre schönen Werbekampagnen? Die Politiker*innen sollten sich endlich mal getrauen zu sagen, wieviel Geld die Migrant*innen in der Schweiz ausgeben. Aber es gibt niemanden – weder links noch rechts – der oder die es wagen würde, von diesem Gleichgewicht zu sprechen: Die Migrant*innen bringen der Schweiz so und so viele Millionen. Und wieviel haben sie exportiert? Das kann man jederzeit zusammenstellen. Doch die Politiker*innen wollen lieber eine Politik der Angst etablieren. Damit sie sagen können: Wir sind gegen die Migration, die Schweiz ist klein, man muss nicht über diese Möglichkeiten schreiben. Es stimmt, dass die Schweiz klein ist. Aber ökonomisch ist sie grösser als Spanien, sogar grösser als Frankreich, man könnte sogar sagen grösser als Deutschland. Deutschland ist stark, sicher, aber wenn man die Bevölkerungszahlen berücksichtigt, dann generiert die Schweiz im Verhältnis pro Kopf mehr als diese grossen Nationen. Wenn die Schweiz heute von einer Stabilität proftiert, dann dank der Migrant*innen. Auch wenn sie sich nicht getrauen, es den Wähler*innen zu sagen: Die Schweiz braucht die Migrant*innen! Sie haben Angst vor den Reaktionen extremer Gruppen. Aber niemand kann sich der Migration entgegenstellen. Die Welt verändert sich.


Die Schweizer Bevölkerung ist sehr intelligent. Den Rassismus siehst du hier nicht.


M/M: Was heisst dies in Bezug auf die Zukunft?

MD: In den nächsten fünf Jahren werden alle Grenzen offen sein. Schon heute können Grenzen nicht mehr kontrolliert werden. Was ich damit sagen möchte: Alle Leute kommen nach Europa, viele werden zurückgehen. Denn wenn alle kommen, werden viele nichts fnden und wieder zurückkehren. Und noch etwas möchte ich sagen: Die Schweizer Bevölkerung ist sehr intelligent. Den Rassismus siehst du hier nicht. Ich bin in einigen Ländern gewesen. Dort wirst du scheel angesehen, beleidigt. In der Schweiz nicht – alle lachen mit dir. Aber wenn es Wahlen gibt, dann werden sie dich sehr, sehr stark schlagen. Und am nächsten Tag spielen sie wieder mit dir.

M/M: Erlebst du alle Leute in der Schweiz so?

MD: Nein. Es gibt die anderen, die sich an Streiks beteiligen, an Demos teilnehmen. Doch sie gehen nicht wählen. Sie sind gegen das System, sie gehen nicht zur Abstimmung. Wenn alle diese anderen Leute abstimmen würden, könnten sie etwas ändern. Aber am Abstimmungsmorgen haben sie keine Lust aufzustehen. Und am nächsten Tag werfen sie Steine.

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