25. Juni 2011 Amanda Baghdassarians

Irgendwo müssen wir anfangen – zum Beispiel auf dem Marktplatz in Meiringen

Das Nothilfe-Zentrum auf dem Brünig liegt weit entfernt von den urbanen Zentren. Ein Versuch, Anwohner_innen und Flüchtlinge näher zu bringen.

Jetzt mal im Ernst, das Schlimmste sind die Vorurteile gegenüber Ausländer_innen, Meiringer_innen und gegenüber den 18 Berufsschülern in Interlaken Ost. Vorurteile stören, stören diesen Impuls, auf das Fremde zuzugehen und machen, dass wir mit diesen hässlich zugekniffenen Augen und den grausam verstopften Ohren herumlaufen. Vielleicht stellte Bleiberecht für alle gerade aus diesem Grund ihren Stand mitten auf den Meiringer Markt, um die Leute vor Ort solidarisieren zu können, und zwar gegen die unmenschliche Behandlung der abgewiesenen Asylbewerber im so genannten Sachabgabezentrum auf dem Brünig.

Die Ohren und Augen der Bleiberechtler_innen waren offen und die Leute kamen zum Stand, wollten hören, was sie zu sagen hatten, stellten Fragen und zeigten sich betroffen über den Umgang mit abgewiesenen Flüchtlingen. Die Lehrerin der 18 Berufsschüler aus Interlaken Ost war auch auf dem Meiringer Markt und hatte keine Fragen, aber sie wünschte ihren Schülern eine Begegnung mit einem Menschen, der in der Schweiz nur noch Anspruch auf sechs Franken pro Tag hat – so sollte es geschehen. 

Als ich und Mischa, ein abgewiesener Flüchtling, in der Schule ankommen, werden meine zugekniffenen Augen durch das herzliche Händeschütteln der Berufsschüler gelockert. Wir setzen uns hin und sie beginnen Fragen zu stellen. Mischa erzählt, wie er in die Schweiz gelangt sei und wie er hier nun festsitze, in einem Sachabgabezentrum. Zurück in sein Heimatland wolle er nicht, er möchte hier ein normales Leben führen dürfen. Er berichtet über die vier Duschen für 60 Leute – das mit dem Warmwasser sei so eine Sache, geduscht werde, wenn überhaupt, nur kalt. Privatsphäre gebe es freilich keine, denn du teilst dir den Raum mit mindestens fünf anderen Menschen, deren Sprache du nicht sprichst.

Mischa beschreibt, wie es sich anfühle, nicht zur Ärztin gehen zu können, weil er als Papierloser keine Krankenkasse habe. Das Schlimmste aber sei, nicht arbeiten zu dürfen, zum Nichtstun verdammt zu sein, ohne konkrete Perspektive. Die Schüler begreifen sofort: All das, was sie in ihrem Leben tun, was sie benötigen und wünschen, wird Mischa verwehrt. Und auf einmal räumt ein Schüler ein: „Also ich bin kein Ausländerfreund, aber das ist doch verrückt – wenn Mischa arbeiten will und er dies nicht darf – da läuft doch was falsch!“ Ich nicke und kann nicht aufhören ihn anzustarren. Dieser Schüler hatte eben begonnen, die Gesellschaft und die Politik mitverantwortlich zu machen für die Lebensumstände eines abgewiesenen Menschen und viel wichtiger noch: in diesem Augenblick wurde Mischa zu einem Mitmenschen, für den die gleichen Rechte gelten sollten wie für ihn selbst.

Bleiberechtler_innen fordern: Kein Mensch darf gegen seinen Willen ausgewiesen werden, weil dies immer körperliches Leid und psychische Folter bedeuten. Migranten und Migrantinnen haben viel auf sich genommen, um in ein anderes Land zu kommen. Es sind mutige Menschen, deren Fähigkeiten die Schweizer Politik unterschätzt und die durch das repressive Asylgesetz in die Illegalität getrieben werden. Deshalb stellt Bleiberecht für alle noch immer ihren Stand mitten auf den Meiringer Marktplatz und wartet auf Leute, die an einer Solidarisierung interessiert sind. Denn irgendwo müssen wir anfangen, z. B. auf dem Marktplatz in... 

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