1. Februar 2011 Sarah Schilliger und David Soofali

Kampf um das Recht auf Rechte

Vom 26. Juni bis zum 2. Juli 2010 besetzten rund 250 AktivistInnen die Kleine Schanze nahe des Bundeshauses in Bern – ein wichtiger Schritt im Kampf gegen die Kriminalisierung von Sans-Papiers.

Während einer Woche war der sonst so beschauliche Park in Bern nicht wiederzuerkennen. Im Anschluss an die schweizweite Demonstration vom 26. Juni, an der rund 5000 Personen teilgenommen hatten, begaben sich etwa 250 AktivistInnen zur Kleinen Schanze. Innert kürzester Zeit entstand eine Zeltstadt samt Bar, Kiosk, Medienzentrum und sanitären Anlagen, umsäumt von zahlreichen Transparenten. Während einer Woche wurde die Kleine Schanze zu einem Ort der politischen Aktion und Diskussion unter zahlreichen Sans-Papiers – Menschen ohne Aufenthaltsbewilligung – und AktivistInnen mit geregeltem Aufenthaltsstatus.

Für eine andere Migrationspolitik

«Wir besetzen diesen öffentlichen Raum und fordern die kollektive Regularisierung für alle. Niemand von uns hat die Illegalität gewählt, sie wurde uns durch die Schweizer Gesetze auferlegt. Wir wehren uns gegen dieses System, welches uns zwingt, versteckt zu leben. Durch diese Aktion treten wir aus dem Schatten.» So beginnt der anlässlich der Besetzung veröffentlichte «Appell an alle Papierlosen und solidarischen Menschen». Im Zentrum der Forderungen der BesetzerInnen stand von Beginn weg die kollektive Regularisierung und Entkriminalisierung der weit über 100‘000 in der Schweiz lebenden Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus, deren einziges «Delikt» ihr Aufenthalt in diesem Land ist. Neben weiteren konkreten Teilforderungen wie die Abschaffung des Arbeitsverbotes für abgewiesene Asylsuchende, die Auflösung des Nothilferegimes sowie das Recht auf Heirat und Familienzusammenführung für Flüchtlinge, versuchten die BesetzerInnen aber auch immer wieder, ihrer grundsätzlichen Kritik am aktuellen Migrationsregime Ausdruck zu verleihen.

In der Tat ging und geht es der Bleiberecht-Bewegung nicht um eine Anpassung oder «Verbesserungen» der derzeitigen «Asyl- und Ausländerpolitik», sondern um einen grundlegenden Paradigmen- und Systemwechsel: Weg von der vielfältigen und skandalösen Kriminalisierung und Diskriminierung von MigrantInnen und Flüchtlingen (Arbeitsmarkt, Sozialversicherungen, Justizsystem), hin zu einer Gesellschaft, die Migration als ein legitimes Recht eines jeden Menschen ansieht und allen unabhängig von ihrer Staatszugehörigkeit BürgerInnenrechte zugesteht.

Ausgehend von der Zeltstadt schwirrten die AktivistInnen täglich aus auf öffentliche Plätze und an die Orte der Macht (Bundeshaus, Bundesamt für bzw. gegen Migration), um laut und unüberhörbar zu protestieren, politische Diskussionen zu lancieren, Flashmobs zu initiieren, ungehorsam zu sein, den alltäglichen städtischen Trott zu stören.

Gelebte Basisdemokratie

Auf dem Camp fanden täglich ein bis zwei Vollversammlungen mit bis zu 300 Teilnehmenden statt, an denen man sich in Basisdemokratie übte. Was sollte im Falle einer Räumung geschehen? Bis wann soll die Besetzung andauern? Unter welchen Bedingungen kann ein Dialog mit dem Bundesamt für Migration stattfinden? Waren diese Versammlungen zu Beginn der Woche noch mehrheitlich von AktivistInnen mit Schweizer Pass geprägt, veränderte sich der Charakter im Laufe der Woche zusehends. Immer mehr Sans-Papiers aus den verschiedensten Regionen der Schweiz vernahmen von der Besetzung auf der Kleinen Schanze und schlossen sich der Bewegung an. Allen Beteiligten bleibt wohl die letzte grosse Vollversammlung am Donnerstagabend in bleibender Erinnerung, die von einem jungen Flüchtling aus Togo animiert wurde und in der alle Statements neben Deutsch auf Französisch, Englisch, Arabisch und Persisch übersetzt wurden.

Selbstorganisation

Eine der grössten Herausforderungen der BesetzerInnen war es, möglichst viele der über 100'000 in der Schweiz lebenden Sans-Papiers zu erreichen. Die mögliche Konfrontation mit der Polizei im Rahmen einer Besetzung führte zu Verängstigungen. Als anfangs Woche bekannt wurde, dass die Stadt Bern das Zeltlager bis Freitag tolerieren würde, entschärfte sich die Situation merklich und die Diskussionen konnten sich wieder vermehrt auf politische Forderungen und den Austausch zum Selbstverständnis und der Organisation der Bewegung konzentrieren. Dabei zeigte sich, dass die Heterogenität und die unterschiedlichen Vorstellungen, Lebenslagen und Ziele der Beteiligten die Bleiberecht-Bewegung vor enorme Herausforderungen stellen. An wen sollten sich die AktivistInnen richten? In erster Linie an die Behörden und politischen Autoritäten, an die Bevölkerung oder an «Direktbetroffene»? Soll möglichst radikal und systemkritisch, oder aber kompromissbereit und «realpolitisch» vorgegangen werden? Wie können die verschiedenen politischen und organisatorischen Aufgaben (Medienarbeit, Aktionen, Programm, Verpflegung, Sicherheit auf dem Camp usw.), die im Vorfeld von einem kleineren Kollektiv getragen wurden, basisdemokratisch und umfassend von alle Beteiligten mitgestaltet werden?
Die Besetzung der Kleinen Schanze ermöglichte es, die verschiedenen Bleiberechtskollektive und vor allem auch neu dazu gestossene AktivistInnen auf schweizweiter Ebene zu vernetzen und so Ansätze einer städteübergreifenden politischen Bewegung zu schaffen.

Eine längere Version dieses Artikel findet sich unter www.debatte.ch.

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