7. Februar 2013 Hassan Aras

Katastrophengebiet Zürich

Der Arzt David Winizki: Mit scharfem Blick gegen trübe Aussichten im Gesundheitswesen. (Bild: Hassan Aras))

in Interview mit dem Arzt und Aktivisten David Winizki über den Aufbau einer minimalen ­Gesundheitsversorgung für Sans-Papiers in Zürich

Vor mehr als zwanzig Jahren hast du ­begonnen, Sans-Papiers zu behandeln. Wie ist es dazu gekommen?
Das hat alles begonnen, als ich 1989 mit meinem Kollegen die Praxis eröffnet habe. Ich konnte damals nur wenig Spanisch und habe es angewendet für südamerikanische Patient_innen. Mit der Kommunikation hat es prima geklappt und die haben wohl auch gefunden, dass ich ein Arzt bin, zu dem man wieder kommen möchte. Das hat sich eben rumgesprochen. Irgendwann so um 1990 herum hat mich jemand angefragt, ob ich auch einen  Sans-Papier behandeln würde. Ich habe zugesagt, doch ich wollte nicht gratis behandeln, denn das würde die Arbeit entwerten. 50 Franken sollte die Konsultation kosten. Das ist etwa die Hälfte des TarMed Tarifs. Schliesslich sollten auch Sans-Papiers ein Recht auf eine bezahlbare Gesundheitsversorgung haben und sollten dafür nicht die hohle Hand machen müssen. Die Sache hat Wellen geschlagen und es sind immer mehr gekommen. Nach wenigen Jahren habe ich wöchentlich fünf Sans-Papiers behandelt.
Dies habe ich jahrelang gemacht, bis etwa 2005. So ist das gekommen. Ich habe immer mit denen gearbeitet, aber politisch hatte ich mich auf dem Gebiet noch nicht engagiert!

Was hat dich daran gehindert, auf politischer Ebene für die Rechte der Sans-Papiers zu kämpfen?
Ich war damals sehr engagiert bei der Drogenlegalisierungskampagne. Ich war aktiv in einer Initiative, die verlangt hat, dass alle Drogen legalisiert werden. Damit war ich von 1992 bis über das Jahr 2000 hinaus beschäftigt. Ich hatte so viel zu tun, dass ich nicht auch noch politisch für Sans-Papiers arbeiten konnte. Ich hatte ja noch die Praxis zu 100% und eine Familie.

Der Zugang zur Gesundheitsversorgung ist für Sans-Papiers erschwert bis unmöglich. 2005 wurde in Zürich eine medizinische Anlaufstelle für Sans-Papiers gegründet. Wie ist es dazu gekommen? Warst du daran beteiligt?
Ja.  Anfang der 1970er Jahre, als ich Medizinstudent war, war ich politisch links gerichtet. Ich habe mich in der Nähe der Trotzkisten bewegt und die haben gesagt: Geht in die Gewerkschaft!
Ich habe ja während dem Studium als Hilfspfleger mein Geld verdient. Ich bin also der Gewerkschaft, dem VPOD, beigetreten. Dem bin ich bis jetzt treu geblieben. Ich bin bis heute Gewerkschafter, obwohl ich kein Angestellter bin. Ich bin aus Solidarität dabei. Dadurch habe ich erfahren, dass die Gewerkschaft, das war 2004, sich für das Recht auf Gesundheit der Sans-Papiers einsetzen möchte. Gleichzeitig haben die Ärzte ohne Grenzen (Médicins Sans Frontières, kurz MSF), welche normalerweise in Katastrophengebieten in Drittweltländern agieren, gefunden, dass es in Zürich eine Katastrophe gibt: nämlich Sans-Papiers ohne Gesundheitsversorgung! Lange habe ich versucht, die Gewerkschaft und die MSF zusammenzubringen. Leider ist mir dies nicht gelungen.
So habe ich dann im 2005 geholfen, die Sans-Papiers-Anlaufstelle  (SPAZ) zu gründen, mit Bea Schwager als Geschäftsleiterin. Dort bin ich bis heute im Vorstand. Ein Jahr später hat sich MSF erneut gemeldet: Sie wollten ein Ambulatorium für Sans-Papiers eröffnen, aber unter der Bedingung, dass ich als Berater am Aufbau beteiligt wäre. Ich war bereit zu helfen, ­ein solches Ambulatorium, das «Meditrina», zu gründen. 2006 ist es an der Anwand­strasse,  in der Nähe des Helvetiaplatzes, eröffnet worden.

Im Jahr 2010 ist Meditrina zum Schweizerischen Roten Kreuz übergegangen. Was hat diese Entwicklung zu bedeuten?
MSF machen ja überall, also auch in der dritten Welt, nur eine Anstosshilfe. Danach übergeben sie das Projekt einer lokalen, nationalen Gruppe, um es weiterzuführen. 2008 hat MSF begonnen, jemanden  zu suchen, der Meditrina übernehmen könnte. Schlussendlich hat das Rote Kreuz beschlossen, das Ambulatorium zu übernehmen. Die konnten sich gut vorstellen, daran weiterzuarbeiten.
Der Vorteil der Übernahme ist, dass die Finanzierung gesichert ist. Im Hintergrund existiert eine logistische Hilfe der Werbe- und Kommunikationsabteilung. Es stehen Räume zur Verfügung. Es funktioniert alles gut. Ich bin froh, dass Meditrina beim Schweizerischen Roten Kreuz ist. Ich bin bei Meditrina noch immer zu 10% als Berater angestellt.

Ein geheimes Ambulatorium für Sans-Papiers! Wie soll man sich das vorstellen?
Im Meditrina arbeiten zwei Leute. Eine Pflegefachfrau und ein Arzt. Die machen dort die Ersttriage. Sie können mit ihren Ressourcen etwa zwei Drittel der Fälle selber behandeln. Es gibt Medikamente, sie verfügen über ein paar wichtige medizinische Instrumente und können wenige Laboruntersuchungen wie Blutzucker, Schwangerschaftstest etc. durchführen. Für den anderen Drittel der Fälle habe ich ein breites Netzwerk von Ärzt_innen. Sie behandeln die  Sans-Papiers wie ich zu Beginn, für 50 Franken. Das Netzwerk der Ärzte besteht etwa aus dreissig Allgemeinmedizinern und zwanzig Spezialärzten. Dazu haben wir 15 nichtärztliche Fachleute wie Hebammen, Physiotherapeuten, Chiropraktiker und Psychologen, Diabetesberater, Apotheker und zwei Labors. In fünf Arztpraxen können ambulante Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt werden. Das kostet allerdings, wie andere spezialärztliche Konsultationen, etwas mehr als 50 Franken. Wenn die Behandlungen nicht bezahlt werden können, steht das Rote Kreuz finanziell bei.

Wir können Sans-Papiers auch in ein Spital überweisen, mit dem wir dazu ein Abkommen getroffen haben. Die Patient_innen können dann ins Spital, ohne dass sie ihre Adresse angeben müssen, weil die Adresse das Geheimste der Sans-Papiers ist. Das Spital respektiert nun eine Aufnahme nur mit Namen, Vornamen, Geburtsdatum und Natelnummer – ohne Wohnadresse.

Es können auch Sans-Papiers ohne Krankenkasse ins Spital eingeliefert werden, ohne dass diese den horrenden Privattarif bezahlen müssen. Für teurere Eingriffe können wir eine Krankenkasse abschliessen, das ist zwar möglich, für die Betroffenen allerdings auch recht teuer, da Sans-Papiers nur etwa 1700 Franken im Monat verdienen. Meditrina überweist pro Jahr nur etwa fünf bis zehn Sans-Papiers in das Spital.

Muss ein Sans-Papiers um seine Sicherheit bangen, wenn er medizinische Betreuung in Anspruch nimmt? Gibt es Repressalien seitens der Polizei?
Das Meditrina befand sich zuerst an der Anwandstrasse, mitten im Langstrassenquartier. Dort hat es ja bekanntlich viel Polizei zugegen. Ich habe mehrmals mit der Stadtpolizei gesprochen. Die Polizei hat uns versprochen: «Wir suchen euch nicht auf! Wir gehen nicht vor die Türe wie die Katze vor das Mauseloch und warten, bis die Mäuse rauskommen! So sind wir nicht!»

An der Kronenstrasse, wo das Meditrina jetzt lokalisiert ist, ist sowieso keine Polizei unterwegs, weil es ein sehr ruhiges Viertel ist. Bei mir in der Praxis ist die Polizei all die Jahre auch nie aufgetaucht. Sans-Papiers werden von der Polizei nicht gesucht, meiner Meinung nach. Sie werden eher zufällig erwischt, zum Beispiel bei Personenkontrollen der Polizei. Schwarze Haut heisst jeden Tag einmal den Ausweis ziehen, das ist klar! Und was ich noch viel schlimmer finde, ist Denunziation von rassistischen Schweizern. Meiner Erfahrung nach sucht die Polizei die Sans-Papiers aber nicht bei der Anlaufstelle und bei den behandelnden Ärzten auf.

Hast du Probleme mit der Polizei bekommen wegen deiner politischen Arbeit?
Nein, nie. Und ich bin ja nicht nur mit den Sans-Papiers exponiert. Am 1. Mai mache ich Ärzte-Pikett, ebenso beim World Economic Forum in Davos. Die Polizei hat davon Kenntnis. Das sind alles politische Aktivitäten. Das ist in der Schweiz vorläufig nicht verboten. Wir haben ja immer noch demokratische Freiheiten. Die Reichen sind immer noch sicher genug, dass wir ihnen das Geld nicht wegnehmen. Wenn wir es ihnen wegnehmen, wird’s weniger lustig! Die Demokratie ist eine Schönwetterdemokratie. Die gilt nur so lange, wie wir den Reichen das Geld nicht wegnehmen. Denn wenn es dazu käme, würden die Reichen die Demokratie abschaffen. Sie würden einen Militärputsch initiieren wie in Chile mit Allende. Aber in dieser Demokratie darf ich meine politischen Aktivitäten fortführen und werde dafür nicht angeklagt.

Wie sind die Reaktionen der Öffentlichkeit auf deine Arbeit?
Ich bekomme fast nur positive Feedbacks. Nicht nur in linken Kreisen, dort ist es selbstverständlich. Auch in rechten Kreisen bekomme ich positive Rückmeldungen. Ich habe mal einen Vortrag gemacht beim Lions-Club, die waren begeistert von meiner Arbeit. Auch mit Freisinnigen und Liberalen habe ich gesprochen, ja sogar mit SVP-Leuten – nur nicht mit Toni Brunner, mit dem spreche ich nicht über solche Angelegenheiten. Die Leute finden alle toll, was ich mache! Natürlich gibt es auch fremdenfeindliche Menschen. Die finden das schlecht, aber ich begegne denen nicht so häufig.

Nun sind wir zum Schluss des Interviews gekommen. Möchtest du noch etwas anmerken?
Ich möchte noch etwas sagen zur Regularisierung und zu den Ursachen für die Anwesenheit von Sans-Papiers. Es handelt sich um weltweite Ungerechtigkeiten. Ich bin auch für Regularisierung, also Legalisierung von Sans-Papiers, das ist selbstverständlich. Aber es ist eine Illusion zu meinen, dass es dann keine Sans-Papiers mehr gibt. Sans-Papiers gibt es solange, wie die Leute in ihren Ländern nicht leben können. Als Beispiel: Ein Mathematik- und Physiklehrer in Peru verdient weniger als ein Sans-Papiers, der in verschiedenen Haushalten putzt. Dabei kann er seine Familie in der Heimat ohne Probleme ernähren. Solange dieser Zustand andauert, werden immer Sans-Papiers kommen. Wir haben in der Schweiz zu viele Steuerflüchtlinge. Die klauen ihren Leuten in der dritten Welt das Geld, welches die benötigen würden, um Spitäler, Strassen, Schulen etc. zu bauen, um eine eigene Industrie zu besitzen, Arbeitsplätze zu schaffen. Wir im Westen sind schuld, dass sie als Sans-Papiers in die Schweiz kommen müssen – weil wir ihnen das Geld wegnehmen.

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