1. Mai 2019 Watch-the-Med-Alarmphone-Gruppe Zürich

«Keine Lösung, aber eine notwendige Intervention»

Seit Oktober 2014 betreiben mehrere transnationale No-Border-Netzwerke eine alternative Notruf-Hotline für im Mittelmeer in Seenot geratene Flüchtlinge. Zahlreiche Schiffsunglücke konnten durch ihre Interventionen bereits verhindert werden. Doch dabei möchten die Aktivist_innen nicht stehen bleiben.

Das Mittelmeer ist in den letzten 15 Jahren für all jene Migrant_innen zu einer tödlichen Falle geworden, denen kein anderer Weg nach Europa offensteht, als eine gefährliche Bootsüberfahrt zu wagen. Neueste Zahlen gehen von mehr als 28’000 Menschen aus, die allein seit dem Jahr 2000 auf ihrem Weg nach Europa zu Tode gekommen sind.1 Das Schiffsunglück vom 3. Oktober 2013, bei dem in unmittelbarer Nähe zur italienischen Insel Lampedusa 366 Menschen starben, ist nur eine von vielen tödlichen Tragödien, für die das europäische Grenzregime verantwortlich ist. Nur acht Tage später, am 11. Oktober 2013, ertranken erneut mehr als 200 Menschen, als ihr Boot zwischen Malta und Italien in Seenot geriet. Zwar setzten sie bei den italienischen und maltesischen Küstenwachen Notrufe ab, diese reagierten jedoch zunächst nicht und so verstrichen wertvolle Stunden, in denen das Boot schliesslich kenterte und sank. Hätten die Küstenwachen früher reagiert, hätten diese Todesfälle verhindert werden können.

Das Watch the Med Alarmphone

Zahlreiche No Border-Aktivist_innen auf beiden Seiten des Mittelmeeres haben diesen Fall unterlassener Hilfeleistung Anfang 2014 zum Anlass genommen, um ein transnationales Netzwerk aufzubauen, das eine unabhängige Notruf-Hotline für Migrant_innen in Seenot betreibt.2 In einem Unterstützungsaufruf fragten sie im Herbst 2014: «Was wäre passiert, wenn die Boatpeople einen zweiten Notruf an eine unabhängige Hotline hätten richten können?» Das Ziel des Alarmphones ist es demnach, unmittelbar über Seenotfälle informiert zu werden und die zuständigen Behörden unter Druck zu setzen und zur Seenotrettung zu zwingen: «Wir wollen unmittelbar Alarm schlagen, wenn Flüchtlinge und Migrant_innen in Seenot geraten und nicht unverzüglich gerettet werden. Wir wollen in Echtzeit dokumentieren und sofort skandalisieren, wenn Boatpeople zu Opfern von Push-Backs3 werden. Wir wollen mit politischem Druck und öffentlicher Mobilisierung eingreifen gegen das Unrecht, das sich tagtäglich an den Aussengrenzen der EU abspielt.»4

Watching the watchers ...

Seit Oktober 2014 ist das Alarmphone von Watch the Med nun bereits aktiv und hat schon in zahlreichen konkreten Fällen erfolgreich intervenieren können.5 Dabei nahmen die Netzwerkmitglieder, die jeweils für acht Stunden eine Alarmphone-Bereitschaftsschicht übernehmen, sowohl Anrufe von Satellitentelefonen direkt aus dem Mittelmeer entgegen, als auch solche von besorgten Verwandten und Freund_innen oder von Aktivist_innen, die schon seit Jahren Notrufe von Bootsflüchtlingen empfangen. Neben einer Abklärung der konkreten Situation, also der Anzahl der betroffenen Menschen, ihres Gesundheitszustandes und des Zustandes des Bootes, versuchen die Schichtteams, die GPS-Daten und die genaue Position des Bootes in Erfahrung zu bringen. Mit diesen Informationen können sie bestimmen, in welcher nationalen Seenotrettungszone sich das Boot befindet, welche Küstenwache verständigt werden muss und ob eventuell kommerzielle Schiffe in der Nähe sind, die von der Küstenwache zur Rettung verpflichtet werden könnten. Zudem versucht das Schichtteam gleichzeitig, die jeweilige Küstenwache zur Rettung zu drängen sowie mit den Anrufer_innen in Kontakt zu bleiben. Sollten Rettungsaktionen ausbleiben, kann das Schichtteam zusätzlich ein breites Netzwerk aus Unterstützenden mobilisieren und auf diese Art und Weise politischen Druck ausüben. Insgesamt kann dadurch sowohl den Grenzkontrollbehörden als auch den Küstenwachen aufgezeigt werden, dass ihr Tun rund um die Uhr beobachtet wird und Menschenrechtsverletzungen und unterlassene Hilfeleistungen auf Hoher See nicht ungeahndet bleiben.

Dieses konkrete Vorgehen wird von den Beteiligten als eine dringend notwendige Intervention gegen das massenhafte Sterben im Mittelmeer verstanden. Sie bedienen sich dabei zum Teil der Techniken, die auch von den staatlichen Kontrollapparaten verwendet werden – satellitengestützte Kommunikation und Überwachung, GPS-Tracking, Sichtbarmachung von Bewegungen – und wenden diese gegen das europäische Grenzregime selbst an. Das Alarmphone-Netzwerk kann und will dabei jedoch nicht stehenbleiben: «Das Sterbenlassen auf See, die Menschenrechtsverletzungen der EU-Grenzschutzagentur Frontex und der Grenzpolizeien in allen Teilen des Mittelmeeres müssen sofort gestoppt werden. Wir brauchen ein zivilgesellschaftliches Netzwerk auf beiden Seiten des Mittelmeeres, das politischen Druck entfalten kann für das Leben und die Rechte der Boatpeople, und wir wollen ein Teil davon sein. Ein solches alternatives Alarm-Netzwerk ist nur ein erster, aber dringend notwendiger Schritt auf dem Weg zu einem euro-mediterranen Raum, der nicht von einem tödlichen Grenzregime geprägt ist, sondern von Solidarität und dem Recht auf Schutz und auf Bewegungsfreiheit.»6

...and going beyond!

Dahinter verbirgt sich eine grundlegendere Kritik, die weit über eine konkrete Intervention in den umkämpften Grenzraum im Mittelmeer hinausweist. Es ist eine Kritik, die das unhinterfragte Geschehen-Lassen des Sterbens an Europas Grenzen nicht länger hinnimmt, sondern Verantwortlichkeiten klar benennt und Alternativen aufzeigt. So betont das Netzwerk immer wieder, dass es gar keine Bootsmigration und damit auch keine Toten im Mittelmeer gäbe, wenn legale Zugangsmöglichkeiten nach Europa existieren würden. Schliesslich waren es erst die seit den 1990er Jahren verschärften Visumspflichten, die dazu führten, dass klandestine Reisen über das Mittelmeer für viele Flüchtlinge und Migrant_innen die einzige Option geblieben sind. In einem ersten Schritt setzt das Netzwerk der europäischen Abschottungspolitik also eine strategische transnationale Intervention entgegen, die sich mit den Bootsflüchtlingen solidarisiert und sie unterstützt, so gut es geht. Letztlich fordert das Netzwerk allerdings mehr. Erfolgreich wäre es erst dann, wenn das tödliche europäische Grenzregime abgeschafft und das Recht auf Bewegungsfreiheit für jede und jeden eingelöst ist.

Die aktuelle Situation im Mittelmeer

Im Jahr 2014 hat sich die Zahl der Überfahrten über das Mittelmeer im Vergleich zu den Vorjahren mehr als verdreifacht. Gleichzeitig startete Italien nach den beiden Schiffskatastrophen vor Lampedusa im Oktober 2013 eine in diesem Umfang nie dagewesene Militär- und Marineoperation, die sich im Laufe des Jahres 2014 zur grössten Seenotrettungsaktion aller Zeiten entwickelte. Durch Mare Nostrum wurden schätzungsweise 170.000 Bootsflüchtlinge oft nahe der libyschen Küste aufgegriffen und sicher auf das italienische Festland gebracht. Trotz dieses massiven Einsatzes der italienischen Marine starben jedoch allein 2014 im Mittelmeer mehr als 3400 Migrant_innen. Im Herbst 2014 scheiterten alle Versuche der italienischen Regierung, die Finanzierung von Mare Nostrum auf alle Schengen-Mitgliedsstaaten zu verteilen und die Operation wurde Ende 2014 eingestellt. Die von der EU-Grenzschutzagentur Frontex geleitete Nachfolgemission Triton verzichtet nun bewusst darauf, ausserhalb einer Zone von 30 Seemeilen vor der italienischen Küste zu operieren. Dadurch nimmt sie willentlich in Kauf, dass noch mehr Flüchtlinge und Migrant_innen in Seenot sterben – und tatsächlich gab es im Mittelmeer im ersten Quartal 2015 mit mindestens 486 Opfern mehr als zehnmal so viele Todesfälle wie im ersten Quartal 2014. Diese menschenverachtende Strategie des Sterben-Lassens wird aktuell durch die transnationale Kampagne Push Back Frontex skandalisiert, an der auch das Netzwerk des Watch the Med Alarmphones beteiligt ist.

Das Watch the Med Alarmphone in der Schweiz

Seit Oktober 2014 gibt es auch in der Schweiz Unterstützungsstrukturen für das Watch the Med Alarmphone. In Bern arbeitet bereits ein erstes Alarmphone-Schichtteam und die Gruppe in Zürich hat im Frühjahr 2015 zwei gut besuchte Info-Veranstaltungen in der Roten Fabrik und in der Autonomen Schule durchgeführt. Ein eigenes Schichtteam in Zürich wird zur Zeit aufgebaut, zudem ist die Zürcher Gruppe offen für weitere Interessierte. Wer über mögliche Formen der Mitarbeit informiert werden möchte, melde sich bei medalphon_zh@immerda.ch. Für Spenden an das Projekt: Postkonto 30-13574-6, IBAN CH03 0900 0000 3001 3574 6, Zahlungszweck MEDALPHON.


Links


1) The migrants files. https://www.detective.io/detective/the-migrants-files/ 

2) Zu diesem Netzwerk gehören, neben zahlreichen Einzelpersonen, unter anderem Afrique Europe Interact, Boats4People, Borderline Europe, die Forschungsstelle Flucht und Migration, No Borders Marokko, Voix des Migrants, Welcome 2 Europe sowie das Mittelmeer-Monitoring-Projekt Watch the Med. 

3) Als Push-Back wird das illegale Zurückdrängen von Migrant_innen über eine Staatsgrenze hinweg bezeichnet, durch das ihnen gewaltsam das Recht vorenthalten wird, einen Asylantrag im Land ihrer Wahl zu stellen. 

4) Aufruf für ein ‘Watch the Med-Notruftelefon’ für Boatpeople: https://alarmphone.org/de/aufruf/ 

5) After two Months in Operation: Insights into the Watch the Med Alarm Phone. https://alarmphone.org/de/2014/12/04/after-two-months-in-operation-insights-into-the-watch-the-med-alarm-phone-3 

6) Aufruf für ein ‘Watch the Med-Notruftelefon’ für Boatpeople.

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