12. April 2022 Malek Ossi
Papierlose Zeitung: Warum engagierst du dich für ein Nein zu Frontex?
Malek Ossi: Wer sich für Grundrechte einsetzt, wer sich gegen Menschenrechtsverletzungen wehrt, kann eigentlich nur gegen Frontex sein und Nein stimmen am 15. Mai. Als Aktivist habe ich vieles mitbekommen, was an den EU-Aussengrenzen passiert. Ich weiss, wie die Menschen unter der Abschottungspolitik leiden, denn ich engagiere mich bei Alarmphone. Da werde ich direkt Zeuge davon, wie den Booten in Seenot die Hilfe verweigert wird.
Viele Menschen in der Schweiz wissen gar nicht, was genau Frontex tut, und dass die Schweiz sich an Frontex beteiligt.
Es sind sehr komplexe Zusammenhänge. Was ist Frontex? Was ist die Funktion dieser Agentur? Was treiben Frontex-Mitarbeitende? Ist die Schweiz überhaupt ein Teil von Frontex? Als ich Mitstudierende an der Hochschule auf das Thema angesprochen habe, sagten einige, dass Frontex gegen die Mafia und Drogenschmuggel kämpfe. Das ist die offizielle Propaganda; es heisst, Frontex garantiere die Reisefreiheit für alle. Aber die wirkliche Tätigkeit von Frontex ist vielen Menschen nicht bewusst.
Frontex ist ein Teil des Schengen-Abkommens und zugleich eine eigene Agentur.
Die 2005 in Polen gegründet wurde … ja, es ist wirklich komplex. In der Schweiz ist Frontex Bundesrat Ueli Maurer unterstellt, aber sein Departement hat mit dem Asylwesen eigentlich gar nichts zu tun; er ist für die Zollverwaltung zuständig. Es ist nur schon schwierig zu verstehen, in welchen Zuständigkeitsbereich Frontex fällt. Alle denken, Karin Keller-Sutter sei verantwortlich, weil sie für Migration zuständig ist – doch das stimmt nicht. Das Argument, dass die Schweiz bei einem Nein zu Frontex aus dem Schengen-Abkommen rausfliegen wird, ist Blödsinn. Es ist viel komplizierter als «Ja-Nein-Raus». Was passieren wird, nachdem der Kredit für Frontex hoffentlich abgelehnt wird, ist schlussendlich eine politische Frage. Hingegen ist es eine Tatsache, dass das Schengen-Abkommen Menschenrechtsverletzungen legitimiert: Menschen werden systematisch zurückgepusht.
Frontex ist an Menschenrechtsverletzungen beteiligt, sagt das Initiativkomitee. Aber wie? Was passiert an Europas Aussengrenzen?
Ich bin bei Alarmphone aktiv – einer Telefonhotline, welche Geflüchtete, die im Mittelmeer in Seenot geraten, um Hilfe bitten können. Wir versuchen, sie bei der Suche nach Rettung zu unterstützen. So habe ich Kontakt zu Booten, die sich zwischen Libyen und Italien befinden, oder zwischen Libyen und Malta. Von den Menschen auf den Booten höre ich oft: Wir kommen nicht voran, wir haben kein Benzin mehr, das Boot ist kaputt. Wasser dringt ein. Sie schicken ihre Standortdaten, und oft berichten sie von Flugzeugen, die über das Boot geflogen sind. Dabei handelt es sich um patrouillierende Frontex-Flugzeuge und -Drohnen. Wir rufen dann die entsprechende Küstenwache an und fordern sie auf, dem Boot in Seenot zu helfen. Aber es kommt keine Antwort. Sie lassen die Menschen ertrinken oder von der libyschen Küstenwache aufgreifen. Frontex hat die libysche Küstenwache ausgerüstet und ausgebildet. Doch in Libyen landen Geflüchtete dann in Gefängnissen oder Arbeitslagern mit unmenschlichen Haftbedingungen. Europa macht sich so zum Komplizen dieser Verbrechen. Es gibt auch Berichte über die Evros-Mission an der Grenze zwischen der Türkei und Griechenland, wo Frontex-Beamte direkt an Push-Backs beteiligt waren. Es waren sogar Schweizer Beamte vor Ort.
Was geschieht bei Push-Backs genau?
Die Geflüchteten überqueren den Fluss Evros von der türkischen Seite her. Sind sie in Griechenland angekommen, dürfte man sie eigentlich nicht in die Türkei zurückschicken, ohne ihren Asylantrag zu prüfen. Aber das passiert nicht. Es werden keine Asylanträge angenommen. Die griechischen Behörden schicken die Menschen unter den Augen der Frontex-Beamten ohne rechtliches Verfahren zurück in die Türkei. Den Menschen wird das Recht auf Asyl verwehrt. Dasselbe passiert in der Ägäis. Dort kommt die griechische Küstenwache. Es gibt Berichte, die beweisen, dass Frontex auch vor Ort war, als die griechische Küstenwache Push-Backs gemacht hat. Sie nahm den Menschen das ganze Hab und Gut weg, entfernte den Motor des Bootes und setzte die Menschen ohne irgendetwas auf sogenannte «schwimmende Zelte», die in Richtung Türkei zurückgestossen wurden – man schickt die Menschen in den sicheren Tod. Da ist Frontex auch involviert. Ende März kamen gerade wieder Berichte ans Licht, die belegen, dass Frontex unmittelbar an Push-Backs beteiligt war.
Die griechischen Behörden schicken die Menschen unter den Augen der Frontex-Beamten ohne rechtliches Verfahren zurück in die Türkei.
Die Menschen werden also daran gehindert, überhaupt einen Asylantrag zu stellen, obwohl sie gemäss der Genfer Flüchtlingskonvention dieses Recht hätten?
Systematisch! Und es hilft auch nicht mehr, wenn man es tatsächlich nach Griechenland schafft. Wir haben bei Alarmphone Berichte von Menschen gehört, die bereits auf einer griechischen Insel waren und nach mehreren Tagen von der Polizei aufgegriffen und wieder in die Türkei zurückgeschickt wurden. Wir haben sogar von einem Mann erfahren, der in Deutschland Asyl erhalten hatte und in Griechenland seinen Bruder besuchen wollte. Auch er wurde aufgegriffen und in die Türkei gebracht, obwohl er deutsche Papiere hat! Das passiert an verschiedenen Orten der europäischen Aussengrenze – zwischen der Türkei und Griechenland, Libyen und Malta und auch auf der Balkanroute.
Wenn du diese Situation mit deiner eigenen Fluchterfahrung vergleichst: War es bei dir 2015 anders?
Ja. Man hat uns zwar damals gewarnt vor schwarz maskierten Männern zwischen der Türkei und Griechenland. Ich weiss nicht, wer genau sie waren, man hat von den «Deutschen» gesprochen. Alle, die von ihnen erwischt wurden, wurden geschlagen, ausgezogen und ohne Geld zurück in die Türkei geschickt. Ob das auch Frontex-Beamte waren? Ich weiss es nicht. Ich hatte jedenfalls Angst vor ihnen, aber zum Glück bin ich ihnen nicht begegnet.
Es scheint, dass die Abschottung der europäischen Grenzen seit 2015 viel extremer geworden ist.
Absolut. Ein Hauptgrund ist der EU-Türkei-Deal. Und in Griechenland kam eine neue rechtspopulistische Regierung an die Macht, das hat die Situation schlimmer gemacht. Zudem haben arabische Länder ihre Politik verschärft. Viele Faktoren spielen eine Rolle. Frontex wurde 2004 mit einem Budget von fünf Millionen Euro gegründet. Heute beträgt das Budget 700 Millionen Euro pro Jahr. Das ist eine krasse Aufrüstungspolitik und eine Militarisierung der europäischen Aussengrenze. Das Geld wird in Überwachungssysteme gesteckt oder in die Ausbildung der libyschen Küstenwache. All das führt dazu, dass heute viel weniger Menschen nach Europa kommen können. Und je restriktiver die Politik, desto teurer sind die Schlepperwege.
Diese Militarisierung der Grenze bedeutet ja nicht nur, dass die Menschen gar keinen Asylantrag mehr stellen können, sondern auch, dass mehr Menschen sterben …
Ich war schon mit Booten in Kontakt, auf denen die Menschen dann leider ertrunken sind. Wir von Alarmphone waren die letzten, mit denen sie vor ihrem Tod gesprochen haben. Das tut mir unglaublich leid. Man weiss nicht mal, wie die Menschen heissen, woher sie kommen; man kann ihre Angehörigen nicht benachrichtigen. Seit Jahren sind Tausende Menschen gestorben. Und das scheint so weiterzugehen. Es macht mich nachdenklich und wütend: Heute scheint es nicht mal mehr schlimm zu sein, wenn ein Boot im Mittelmeer versinkt. Es ist zur Selbstverständlichkeit geworden, wenn ein Kind stirbt. Die Botschaft von Europa und der Schweiz ist: Diese Menschenleben aus dem Nahen Osten und Nordafrika sind weniger wert; wir machen diesen Leuten das Leben schwer; wir verhindern systematisch, dass sie ankommen. Für Menschen aus anderen Ländern öffnet man die Grenzen. Dieser ungleiche Massstab zeigt, dass die europäische Idee nicht funktioniert.
Wie meinst du das?
Von einem Kontinent wie Europa, der sich mit den Menschenrechten schmückt, erwarte ich nicht, dass er die Menschenrechte dermassen mit Füssen tritt. Wenn ein Regime wie das von Erdogan oder Assad so reagieren würde, würde es mich nicht überraschen, denn das sind brutale Systeme, die auf Blut gebaut sind. Aber wenn solche Gewalt an der europäischen Grenze geschieht, bezahlt auch mit Schweizer Geld, verstehe ich es echt nicht. Das ist mit demokratischen Prinzipien nicht vereinbar.
Das Interview führte Martina Läubli.
Europa macht sich zum Komplizen der Verbrechen in Libyen.
Informationen des Referendumskomitees zur Abstimmung vom 15. Mai: Ein NEIN zu Frontex ist ein Ja zur Bewegungsfreiheit für alle
Das Schweizer Parlament hat entschieden, die europäische Grenzschutzagentur Frontex mit einem vielfach erhöhten Budget von über 60 Millionen Franken pro Jahr sowie mehr Schweizer Grenzpolizist*innen zu unterstützen. Dagegen wurde u. a. vom Migrant Solidarity Network erfolgreich das Referendum ergriffen. Am 15. Mai können die Stimmberechtigten entscheiden. Das Nein des Referendumskomitees NoFrontex ist ein “NEIN” zur Abschottung Europas und ein “JA” zur Bewegungsfreiheit für alle Menschen. NoFrontex will gleiche Rechte für alle statt einer ausschliessenden Personenfreizügigkeit und Privilegien innerhalb Europas.
Die europäische Grenzschutzagentur Frontex hat grundsätzlich problematische Aufgaben. An den EU-Aussengrenzen übt sie Gewalt gegen Migrant*innen aus, die als «irregulär» eingestuft werden. Frontex ist aber auch ein Problem für Geflüchtete mit «gerechtfertigten» Fluchtgründen. Viele Berichte belegen, dass Frontex direkt und indirekt an illegalen Abschiebungen von Menschen beteiligt ist. Die Rede ist von illegalen Push-Backs: dem gewaltvollen Zurückdrängen von Geflüchteten, ohne ihnen ein faires Asylverfahren zu gewähren, das ihnen gemäss Genfer Flüchtlingskonvention zusteht. Des Weiteren koordiniert Frontex Ausschaffungen für Staaten innerhalb der EU. Zudem entzieht sich Frontex allen Kontrollmechanismen. So wurden die Empfehlungen des Grundrechtsbeauftragten wegen Bedenken zur Einhaltung der Menschenrechte bei den Einsätzen 2020 in Evros und der Ägäis schlicht missachtet und nicht umgesetzt.
Frontex ist ein wichtiges Werkzeug der Externalisierungsstrategie des neuen Migrationspakts. Dieser Pakt treibt die Auslagerung der Grenzkontrollen in sogenannte Drittstaaten ausserhalb der EU voran, womit sich die EU ihrer politischen Verantwortung entzieht. Das Ziel ist, Menschen bereits weit vor dereuropäischen Aussengrenze abzufangen. Frontex ist beispielsweise zunehmend in Balkanstaaten präsent – etwa in Albanien seit 2020 – und seit Kurzem auch im Senegal.
Die kritische Auseinandersetzung mit dem europäischen Migrationsregime findet in den Medien kaum statt. Migrantische Perspektiven sind kaum hörbar. Zudem sind in der Schweiz ein Viertel der hier Wohnenden von politischen Entscheidungen ausgeschlossen. Das ist für eine «Demokratie» inakzeptabel. Demokratie bedeutet, dass alle Menschen mitsprechen können und dass die Menschen in der Schweiz auf der Basis einer globalen Solidarität abstimmen würden.
Je mehr Menschen über die Machenschaften von Frontex informiert sind, desto besser. An sich liegt der gravierende Rassismus auf der Hand. Wenn im eng überwachten Mittelmeer Zehntausende ertrinken, dann ist es kein Unglück, sondern politisch gewollter Mord. Frontex steht für Abschottung und Sterbenlassen, während wirksame Kontrollorgane fehlen und die Schengen-Staaten trotz dokumentierter Menschenrechtsverletzungen wegschauen. Es geht nicht nur um eine Budgeterhöhung, sondern um Menschenwürde. Humanitäre Traditionen, die einzig dafür da sind, um nationale Privilegien zu bewahren, lehnen wir ab.