10. August 2016 Salvatore Pittà

Nicht Sandwiches, sondern Informationen bringen weiter

Infotafel am griechisch-mazedonischen Grenzübergang in Idomeni, November 2015 (Bild: Moving Europe)

Die sogenannte Balkanroute ist wieder versperrt. Doch zuvor war die europäische Grenze nach jahrzehntelanger Abschottung fast ein Jahr lang offen. Dass dies möglich war, liegt auch am Einsatz von transnationalen Netzwerken wie «Welcome to Europe» und «Noborder».

Die plötzliche Wiedereröffnung der Migrationswege entlang der sogenannten Balkanroute im Sommer 2015 ist von grosser Bedeutung. Noch nie war es für Drittstaatenangehörige so einfach, nach Europa zu gelangen. Waren es zu Beginn 200 Migrant*innen, welche die Grenze zwischen Griechenland und Mazedonien passieren durften, sind bis Anfang 2016 über eine Million Menschen über diese Route nach Europa gekommen. Tausende von Menschen versorgten sie während Monaten auf dem Weg. Es dauerte mehr als ein halbes Jahr, bis EU und «betroffene» Staaten eine «angemessene» Antwort fanden, sprich die Grenzen wieder dichtmachten. Nun ist es so weit.

Viele der seit Sommer neu engagierten freiwilligen Helfer*innen suchen bestenfalls nach einem geeigneten Ort, wo ihnen noch erlaubt wird, die gesammelten Reste aus den Kellern und Estrichen der westeuropäischen Zuvielgesellschaft loszuwerden. Sie nehmen die behördlichen Anordnungen einfach so zur Kenntnis, ziehen sich zurück und überlassen die Zurückgebliebenen ihrem Schicksal – genau dann, wenn sie unschuldig und nach der gefährlichen Überfahrt im Gefängnis sitzen, bevor sie höchstwahrscheinlich zurück in die Türkei deportiert werden. Währenddessen suchen Menschen auf beiden Seiten der Ägäis verzweifelt nach einer Alternative und versuchen zu verstehen, was die immer wieder von Neuem und urplötzlich gefällten Entscheide der verschiedenen «Player» für sie bedeuten, wie sie ihren Alltag und ihre Erfolgsaussichten beeinflussen.
Gerüchte verbreiten sich im Lauffeuer, Desorientierung und Angst nehmen Überhand, und das in einem zunehmend isolierten Umfeld, in dem falsche Entscheide schnell lebensgefährlich sein können. Keine Frage: Nicht Socken, Sandwiches und Mineralwasser brauchen die Migrant*innen jetzt, sondern vertrauenswürdige Informationen und unabhängige Kontakte, die ihnen helfen, das Ganze zu verstehen und weiterzukommen. In diese Bresche springt Welcome to Europe, und zwar nicht erst seit gestern. Das macht es für die Menschen auf dem Weg nach Europa zu einem besonderen Netzwerk.

Internationalisierung der Migrationspolitik

Bereits Mitte der neunziger Jahre gab es in verschiedenen europäischen Ländern antirassistische Netzwerke, die sich digitaler Medien bedienten. Die internationale Vernetzung entstand im Zuge der öffentlichen Proteste gegen den Gipfel des Europäischen Rats im finnischen Tampere im Oktober 1999. Die Asyl- und Migrationsbewegung antwortete zwei Monate später mit der Gründung von Noborder, einem losen transnationalen Netzwerk von antirassistischen, antikapitalistischen
und emanzipatorischen Aktivist*innen, die fortan mittels Mailingliste gemeinsame Strategien und Aktionen diskutierten, entwickelten und durchführten.


«We welcome all travellers on their difficult trip and wish you all a good journey – because freedom of movement is everybody’s right!»


Es entstanden eine Homepage und verschiedene Kampagnen, so zum Beispiel gegen Ausschaffungsflüge oder das globale Migrationsmanagement der International Organization for Migration IOM. Mit der Zeit diversifizierten sich die Handlungsfelder und Kommunikationsmittel der Noborder-Bewegung: Deren Homepage ist seit Jahren verwaist, dafür gibt es etliche der Noboder-Philosophie zugewandte Netzwerke mit ihren eigenen digitalen Produkten.

Von grosser Bedeutung für die Noborder-Netzwerke ist schliesslich die im Herbst 2014 entstandene Hotline Watch The Med Alarmphone, die seit einem Jahr auch in der Schweiz präsent ist. Die Lancierung des Alarmphones fiel mit dem Ende von Mare Nostrum, der italienischen Seerettungsmission zusammen. Seither kann das Alarmphone rund um die Uhr von Bootsflüchtlingen aus dem Mittelmeer angerufen werden, etwa um bei Seenot Rettungshilfe anzufordern. Dem Alarmphone kommt auch die Bedeutung zu, die aus der Noborder-Bewegung entstandenen Netzwerke wieder zur Kooperation zu gewinnen. Schichtteams aus Nordafrika und Europa wechseln sich mit der Betreuung des Alarmphones ab und gewährleisten so eine Präsenz rund um die Uhr. Innerhalb eines Jahres konnten so nicht nur Hunderte von Flüchtlingsbooten geortet und sichtbar gemacht, sondern auch entscheidend Einfluss auf deren Seenotrettung genommen und die europäische Bevölkerung über das Sterben, Leiden und Verschwinden im Mittelmeer sensibilisiert werden, das sie mit verantwortet.

Underground Railroad 2.0

Seit der ersten Hälfte der Neunziger finden internationale Noborder-Camps an den EU-Aussengrenzen statt, bei denen sich Aktivist*innen face-to-face treffen und kennenlernen. An den Camps wird die Vision der globalen Bewegungsfreiheit, d. h. Personenfreizügigkeit ohne Verlust von Rechten für alle Menschen, weiter entwickelt und in die Praxis umgesetzt. So entstand im Sommer 2009 in einem Noborder-Camp auf der griechischen Insel Lesbos das Netzwerk Welcome to Europe. Während des Camps besannen sich die Teilnehmenden auf die vor dem amerikanischen Sezessionskrieg entstandene Underground Railroad, einem Fluchtsystem für schwarze, der Sklaverei unterworfene Menschen, die von den Süd- in die Nordstaaten fliehen wollten. Im Kampf gegen die Sklaverei hatten sich Gegner*innen vernetzt, um notwendige Hilfe entlang der Underground Railroad zu koordinieren.

Welcome to Europe nahm diese Idee auf und verband sie mit den Mitteln heutiger Kommunikationstechnologie. Seitdem betreibt das Netzwerk einen Webguide für Migrant*innen, auf dem in den vier wichtigsten Migrationssprachen Englisch, Französisch, Arabisch und Farsi vertrauenswürdige Kontaktstellen und unabhängige Informationen veröffentlicht werden. Über Mail werden Beratungen angeboten, auf der Homepage, aber auch an Brennpunkten der Migrationsrouten werden Flug- und Merkblätter verteilt. Ebenso produziert Welcome to Europe Broschüren mit Hinweisen und Informationen zu einzelnen Ländern oder Themen wie das Dublin-Verfahren, minderjährige Migrant*innen, der neue EU-Türkei-Deal usw. Zudem bilden gut verankerte Gruppierungen und Einzelpersonen lokale Netzwerke, die die Menschen vor Ort begleiten, insbesondere wenn es sich um Fälle von internationaler Dimension handelt.

Kommunikation in der Migration

Im Grunde sammelt und produziert Welcome to Europe schlicht Wissen, das Menschen auf dem Weg nach Europa nützlich sein kann, um weiter zu kommen, und stellt es ihnen über verschiedene, dem Bedarf angepassten Kanälen zur Verfügung. Das tönt banal, ist es aber ganz und gar nicht, im Gegenteil. Denn Wissen und Kommunikationsmittel sind für Menschen auf der Reise von zentraler Bedeutung. Grenzübertritte sind meistens riskant und Telefonate oft nicht möglich. Bei der Vorbereitung, auf dem Migrationsweg und bei der Ankunft im vermeintlich «gelobten Land» helfen GPS, Such- oder Übersetzungsdienste, eine Orientierung in der fremden Umgebung zu finden, was den Ankommenden eine gewisse Autonomie und Sicherheit gibt. Zudem sollen die Familien zu Hause wissen, dass man heil angekommen ist. Umso bedenklicher, dass die hiesigen Medien und selbst viele freiwillige Helfer*innen erst letztes Jahr zu merken begannen, dass Migrant*innen es durchaus verstehen, Mobiltelefone und Internet in ihrem Interesse zu nutzen.

Die Wiedereröffnung der Balkanroute

Dass die Grenzen entlang der sogenannten Balkanroute für Migrant*innen im Sommer 2015 geöffnet wurden, war schliesslich weder gottgegeben noch ein Geschenk der Mächtigen. Bereits Monate zuvor registrierte Welcome to Europe zunehmend Anfragen aus Südosteuropa.

Aus diesem Anlass unternahmen Aktivist*innen des Netzwerkes eine Erkundungsreise entlang dieser Route. Alte Kontakte mit lokalen Partnern wurden erneuert und neue geknüpft. Am Morgen des 26. Juni erhielt das Alarmphone die Nachricht, dass eine Gruppe von etwa 200 Migrant*innen von der mazedonischen Grenzbehörde mit Gewalt in einen Wald zurückgedrängt wurde. Mehrere Personen wurden dabei verletzt, das Wetter war schlecht, und die Gruppe kannte das Gelände nicht. Mittels GPS-Daten konnte die Gruppe in der Nähe des nordgriechischen Dorfes Idomeni geortet werden. Da es sich nicht um eine Seegrenze handelt, leitete das Alarmphone den Hilferuf an Welcome to Europe weiter. Dank Mail und Facebook wurden innert einer Stunde Aktivist*innen kontaktiert, die sich aufmachten, um Hilfe vor Ort zu leisten. Danach verhandelten sowohl auf griechischer wie auf mazedonischer Seite ortskundige Aktivist*innen mit den Grenzbehörden, während andere aus der Ferne das UNHCR, grössere NGOs und Medien aus Südosteuropa, England und Frankreich über die Ereignisse informierten. Nach einer Woche war der Durchbruch geschafft: Die Migrant*innen konnten – ausnahmsweise – in kleinen Gruppen die Grenze legal passieren. Die Nachricht wurde daraufhin per soziale Medien verbreitet und erreichte in Windeseile die ägäische Küste und den Nahen Osten.

Schliesslich blieben die Grenzen bis Ende November 2015 und teilweise bis Februar 2016 für mehr als eine Million Menschen offen, die sonst nie so einfach nach Europa gelangt wären – grauenhafte Bilder hin oder her, die übrigens nie entstanden, wenn die Menschen freie Fahrt erhielten, sondern immer dann, wenn die Staaten verzweifelt versuchten, der «Lage Herr zu werden», sprich irgendwelche Grenzabschnitte dichtmachten, um «Migrationsströme besser zu steuern».

Wo ein Ziel ist, da ist auch ein Weg

Dass Welcome to Europe im westlichen Europa nicht so bekannt ist, hat einen einfachen Grund: Es konzentriert seine Anstrengungen auf die Menschen auf dem Weg nach Europa, also an dessen Grenzen und darüber hinaus. Aus dem intensiven Austausch mit ihnen und mit solchen, die es bereits geschafft haben, erfahren wir, was wer wo braucht, um sein/ihr Ziel zu erreichen. Durch die Anwesenheit in mehreren Dutzend Ländern und feste Bindungen zueinander erhalten wir einen Überblick darüber, wie sich das europäische Grenzregime vor Ort auswirkt. Wir klären die Menschen auf über ihre Rechte und analysieren die Hindernisse, die ihnen in den Weg gestellt werden. Wir bemächtigen sie so, den Weg zu beschreiten, den sie sich vorgenommen haben. Wir gehen davon aus, dass nicht wir oder die vielen freiwilligen Helfer*innen die Held*innen sind, sondern sie selbst: die, die sich auf den Weg machen und den Hindernissen trotzen, immer häufiger unter Lebensgefahr.
Wir können sie nur unterstützen. Seit Neuestem wissen wir aber: Ab und an können wir das Grenzregime aus dem Gleichgewicht bringen und so unzähligen Menschen zu einem besseren Leben verhelfen, mit dem Flügelschlag eines Schmetterlings einen Tornado auslösen. Wir wissen nun: Es ist möglich! und gehen gestärkt aus diesen Ereignissen hervor. Denn es mag beelendend sein zuzuschauen, wie sich viele vom Engagement wieder abwenden. Aber getragen werden wir von der Einsicht, dass wir mit den Übriggebliebenen mehr sind als zuvor – und um eine wichtige Erfahrung reicher.


Welcome to Europe kann man unterstützen
Die Arbeit des Netzwerks Welcome to Europe beruht durchgängig auf freiwilligem Engagement. Kosten für Infrastruktur, Kommunikation, Kontakt- und Recherche-Reisen sowie internationale Treffen werden grösstenteils von den Freiwilligen selbst getragen. Das Netzwerk freut sich über jedwede finanzielle Unterstützung, die insbesondere zugunsten ihrer  aktivsten Freiwilligen mit prekären Aufenthalts- und Arbeitsbedingungen aufgewendet wird.

SPENDENKONTO
Watch The Med Alarmphone Schweiz –
Mit Sitz in Zürich
PC: 61-172503-0
IBAN: CH21 0900 0000 6117 2503 0
VERMERK: Welcome to Europe

Weiterführende Links
www.w2eu.info
http://live.w2eu.info
www.alarmphone.org
www.noborder.org

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