24. Februar 2014 Khalid Ahmad

Rätedemokratie in Kurdistan-Irak

Die Rätedemokratie in Kurdistan­Irak war eine unabhängige Bewegung von Kommunist_innen. Sie entstand im März 1991, nachdem Saddam Hussein als Folge seiner Niederlage gegen die USA im Golfkrieg im Norden von Irak seine Macht verloren hatte. In diesem Interview erzählt Jamal Hassan, Mitglied der International Federation of Iraqi Refugees (IFIR), über Entstehung und Hintergründe der Bewegung.

Das Interview auf Kurdisch-Sorani als PDF

Khalid Ahmad: Was war Kurdistans Rätedemokratie? Wie hat sie sich entwickelt und wer waren die Akteure?
Jamal Hassan: Die Rätedemokratie war eine unabhängige Bewegung von Kommunist_innen. Sie entstand, nachdem die Baath-Partei Saddam Husseins im Norden vom Irak im März 1991 ihre Macht verloren hatte. Der militärische Apparat wurde vom Volksaufstand zerstört. Danach bestand in den befreiten Städten ein politisches Vakuum. Während der Demonstrationen der Bevölkerung wurde der Slogan «Brot, Freiheit, Staatsrat» laut. Auch aufgrund der wirtschaftlichen Sanktionen der USA lebte die irakische Bevölkerung in einer schwierigen Lage. Armut, Krankheit und Arbeitslosigkeit nahmen zu. Die Baath-Partei wurde gezwungen, innert weniger Tage aus Kurdistan abzuziehen. Schnell musste die staatliche Verwaltung neu organisiert werden. Deshalb wurden verschiedene Vollversammlungen einberufen. Vertreter von Quartieren und Fabriken kamen zusammen und bildeten die obersten Räte.
In grossen Städten wie Erbil, Sulaymania und Kirkuk war die rätedemokratische Bewegung nahe an der Bevölkerung und nahm am Volksaufstand teil. Ich selbst war darin aktiv.

Die neue kommunistische Bewegung im Irak war nach der iranischen Revolution 1979 beeinflusst von der Arbeiter_innenBewegung und von marxistischen Gruppierungen. Wir waren verschiedene kleine Gruppen im Untergrund Iraks, weder pro-westlich noch pro China. Wir grenzten uns klar von der kurdisch-nationalistischen Partei ab, die auch gegen die Baath-Partei gekämpft hatte. Erstmals in der kurdischen Gesellschaft entwickelte sich dieses politische Projekt der Rätedemokratie als praktische Ausformung und Neuorganisation in verschiedenen öffentlichen Bereichen. Sie verbreitete sich rasch in Fabriken, Schulen, Spitälern und Quartieren. Die Arbeiter_innen, die junge Generation und die Frauen nahmen an diesem Projekt teil. Die Hauptentscheide, Leitlinien und Traktanden wurden in der Vollversammlung diskutiert und direkt entschieden.


Der kurdische Aufstand 1991

Nach der Niederlage Saddam Husseins im 2. Golfkrieg 1991 kam es zu Aufständen der schiitischen und kurdischen Bevölkerung. Die traditionell-nationalistischen Parteien der Kurdischen Front unter Massud Barzani und Jalal Talabani standen der revolutionären Rätedemokratie skeptisch gegenüber. Nach dem Waffenstill- stand mit den US-Alliierten schlug Hussein die Aufstände blutig nieder. Die im Sommer 1991 durchgesetzte Flugverbotszone erlaubte den Kurd_innen dann, die Kontrolle über ihre Gebiete zu erlangen – allerdings nicht mit einer rätedemokratischen Bewegung, sondern durch die Parteien der Kurdischen Front.


K.A.: Was war die Position der kurdischen Nationalisten gegenüber der rätedemokratischen Bewegung?
J.H.: Zuerst waren sie schlecht informiert und konnten diese neue Bewegung nicht verstehen. Ihre militärischen Kräfte waren noch nicht aus dem Exil im Iran zurückgekommen, und so waren sie noch nicht stark. Die rätedemokratischen Aktivist_innen hatten in kleinen Gruppierungen illegal gegen die prekäre Lage im Irak unter Saddam Husseins Regierung gekämpft. Sie spielten eine führende Rolle im Volksaufstand und zwangen die Zentralregierung, den militärischen Apparat vom kurdischen Teil abzuziehen. Nachher entwickelten sich beide Parteien, die kurdischen Nationalist_innen, genannt Kurdische Front, als auch die Rätedemokrat_innen, parallel als zwei Mächte in der Mitte der Gesellschaft, und es kam zu öffent lichen Konflikten. Der jetzige irakische Staatspräsident Jalal Talabani – gleichzeitig Generalsekretär einer der zwei grossen Parteien – rief die Gruppe auf, sich aufzulösen. Gegen diesen Aufruf demonstrierte die Rätedemokratie am 16. März 1991 auf dem Freiheitsplatz in Sulaymania. 30‘000 Menschen nahmen teil.

Die Demo hatte eine grosse Wirkung. Danach bat die Kurdische Front um einen Dialog, und Jalal Talabani empfing die Vertreter der rätedemokratischen Bewegung persönlich. Es gelang ihnen aber nicht, eine politische Lösung zu finden. Die Rätedemokrat_innen versammelten sich schliesslich, um zu besprechen, wie mit der Kurdischen Front und der irakischen Regierung umgegangen werden sollte. Die Lage war sehr kompliziert und chaotisch, und man versuchte kurzfristig einen Plan durchzusetzen. In kurzer Zeit konnten die Rätedemokrat_ innen Verwaltung, Fabriken und Institutionen zum Funktionieren bringen, Wasser und Elektrizität in Betrieb setzen, Sanität und Strassenreinigung organisieren, Quartiere für die Soldaten einrichten sowie ein öffentliches Gericht eröffnen und eine militärische Verteidigung, Beobachtungsposten und Vorkehrungen zum Schutz der Städte gegen die alte Regierung organisieren.

K.A.: Was waren die Forderungen der Rätedemokrat_innen und der Kurdischen Front nach Talabanis Versuch, die rätedemokratische Bewegung zu stoppen, und nach seinem Aufruf zur Debatte?
J.H.: Die Kurdische Front war despotisch und totalitär. Sie bedrohte die Rätebewegung schon, als die Baath-Partei noch an der Macht war und die Kurd_innen noch nicht frei. Ausserdem hatten sie einen Vertrag mit den USA. Doch sie konnten nicht das Geringste ausrichten und mussten die Aktivität der rätedemokratischen Bewegung tolerieren. Die Entscheide der Vollversammlungen wurden öffentlich publiziert. Die Hauptforderungen waren: Gleiche Rechte für Männer und Frauen in allen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Bereichen, Trennung von Religion, Staat und Erziehung, Recht auf Zukunft, Gestaltungsfreiheit für das kurdische Volk, politische Freiheit ohne Einschränkung und Entscheidungsmacht der Rätebewegungsvertreter_innen. Die kurdische Front war machthungrig, aber die Bewegung der Rätedemokratie wollte diese politische Kraft entmachten und die Macht der Bevölkerung geben.

K.A.: Was war das Ziel der Rätedemokratie und wie sollte der zukünftige rätedemokratische Staat aussehen?
J.H.: Am 14. Januar 1991 publizierte die «rauti communist», eine winzige Splittergruppe der damaligen kommunistischen Bewegungen, eine Resolution, die sie in Arbeiter_innenquartieren, Fabriken und Universitäten verteilten. Im Zentrum dieses Papiers präsentierten die Arbeiter_innen die Räte als Staatsmacht und nannten die Prozesse, Strukturen und politischen Prinzipen dieses zukünftigen Staates. Ein konkretes Beispiel: Am 12. März 1991 besuchte ich mit einer Gruppe Räteaktivist_innen eine Hühnerfabrik in der Nähe von Erbil, wo etwa 500 Arbeiter_innen beschäftigt waren. Bei jeder Sektion führten wir Vollversammlungen durch und es wurden Vertreter_innen gewählt. Wir haben dort tiefgehend und offen über die Zukunft der Arbeiter_innenbewegung und die Rolle der Arbeiter_ innen diskutiert. Andere Aktivist_ innen gingen in andere Fabriken in den Bereichen Textil, Tabak und Steinbearbeitung sowie in die Wohnquartiere und führten die gleichen politischen Debatten weiter.

Am 20. März 1991 wurde aus diesen Aktivitäten heraus eine Demonstration mit einem Abschlussfest organisiert und es entstand ein neues Zentrum der rätedemokratischen Bewegung in Erbil. Auch in Sulaymania wurde diese Arbeit in Spitälern, in Textil-, Tabak und Zementfabriken geleistet, allerdings war die Rätedemokratie in den Wohnquartieren populärer als in der Industrie.


Kurz: Wir wollten die Pariser Kommune wiederholen.


Aber leider kamen die Rätedemokrat_innen nicht gegen den militärischen Angriff der Baath-Regierung an. Die grosse Volksvertreibung Ende März desselben Jahres bedeutete die Auflösung der Bewegung.

K.A.: Wie lange dauerte die Bewegung der Rätedemokratie an?
J.H.: Die Rätedemokratie dauerte als gesellschaftliche Bewegung, in der Öffentlichkeit und in den Vollversammlungen, wo sich viele Leute engagierten und teilnahmen, 20 bis 30 Tage. Nach der Auflösung arbeiteten die Aktivist_innen in anderer Form weiter. Es gab verschiedene kurdische Vereine, Zusammenschlüsse und Aktivitäten mit mehr als 30‘000 Mitgliedern, in denen die Vollversammlung Kernbestandteil blieb, und weiterhin wurden Demonstrationen organisiert. Am 22. April 1998 wurden Schapur, Vorsitzender einer Arbeitslosengewerkschaft, und sein Sekretär Kabil, in einem Terrorakt ermordet. Dies geschah mit grünem Licht von Seiten der Demokratischen Partei Kurdistans unter dem jetzigen Präsidenten der Autonomen Region Kurdistan, Mesud Barzani.

K.A. : Was beinhaltete das politische Programm der Rätedemokratie?
J.H.: Die Hauptforderungen waren gleiche Rechte für Mann und Frau in allen Bereichen, politische Freiheit ohne Einschränkungen, ein Kongress der allgemeinen Räte als oberste Staatslegitimation und oberstes Staatsorgan, Verbot der Kinderarbeit, ausreichender Lohn für ein anständiges Leben für Familien, Abschaffung jeder Form des militärischen Zwangs, Schaffung einer politisch unabhängigen freiwilligen Partei, lokales Recht auf Autonomie und das Setzen eigener Prioritäten.

K.A.: Welche Rolle spielten die Frauen in dieser Bewegung?
J.H.: Die meisten Arbeiter_innen damals waren Frauen, da die Männer kämpfen mussten. Der Irak war stark militarisiert und die patriotisch-nationalistischen Kurden hatten keinen Platz für «Schwache». Die Arbeiterinnen aus der Teppichund Textilproduktion und der Tabakindustrie sowie private Unternehmerinnen wie Schuhfabrikantinnen, Süssigkeitenherstellerinnen und Steingutproduzentinnen waren direkte Gründungsmitglieder des Rates. Die Bewegung der Rätedemokratie hatte sich in den Städten entwickelt. Sie war offen für alle, was viele Hindernisse aus dem Weg schaffte und breite Bevölkerungsschichten politisch anzusprechen vermochte. Die kommunistische Linie wurde von Frauen und Männern gebildet und unsere politische Praxis war, diese Gleichheit in der täglichen Arbeit durchzusetzen. Das hatte grossen Erfolg, und die Frauen bildeten eine Mehrheit in der Rätedemokratie, besonders im industriellen Sektor.

K.A.: Was war der schwächste Punkte oder grösste Fehler der Ratsbewegung?
J.H.: Ich glaube, diese Frage müsste man ausführlicher beantworten als es in diesem Rahmen möglich ist. Kurz gesagt: Jede neue Bewegung, sei sie politisch, gesellschaftlich oder literarisch, muss ihren eigenen Weg zur Reife finden. Die Arbeiter_innenklasse hatte kein Streikund Demonstrationsrecht, und jedes Wort gegen die Arbeitsbedingungen war Grund genug für eine hohe Bestrafung. Dieser Despotismus herrschte überall und hatte grossen negativen Einfluss auf unsere Aktivitäten. Auf der anderen Seite haben die kurdisch-nationalistischen Parteien Erfahrungen, langjährige Traditionen und die Religion. Auch erhielten sie Unterstützung von den USA durch Geld, Logistik und Politik. Wir hatten wenig Erfahrung, besonders militärisch, administrativ und verwaltungstechnisch, und wir hatten keinen Kontakt mit der Aussenwelt. Wir haben nicht versucht, Brücken zu unseren Kamerad_innen in anderen Teilen der Welt zu bauen, und auch jetzt noch nehme ich null Solidarität wahr.

K.A.: Wie hat die Rätedemokratie das heutige Kurdistan beeinflusst?
J.H.: Im Vergleich zu damals haben diese Räte heute keinen Einfluss mehr. Trotzdem wird die Rolle und der Einfluss dieser Bewegung in der kurdischen Geschichte grossgeschrieben. Diese Sicht auf die Gesellschaft – die neue Perspektive der Freiheit des Menschen im Gegensatz zu den konservativen Normen der Religion und der Unwissenheit – lebt in verschiedenen Schichten der Gesellschaft weiter und wird von Vereinen und Unionen von Frauen, Arbeiter_innen, Intellektuellen und Künstler_ innen weitergegeben. Die enge Welt der Nationalist_innen, die sich in moderner Zeit mit dem kapitalistischen System verbanden und ein wichtiges Organ des Systems wurden, muss abgeschafft werden.

K.A.: Hat diese Bewegung momentan noch Einfluss?
J.H.: Nein. Diese radikale Kritik und Massenbeteiligung in einer Basisbewegung gibt es derzeit nicht. Aber ich kann sagen, dass mit den und durch die arabischen Revolutionen eine neue Phase erwacht ist. In Griechenland hat eine neue Welle von Protesten angefangen. Am 17. Februar 2011 haben in Kurdistan, besonders in Sulaymania, Tausende von Leuten im Zentrum der Stadt und auf dem Freiheitsplatz demonstriert und diese Proteste zwei Monate lang aufrecht erhalten. Durch die Innovationen in der Kommunikation haben die Leute heute mehr Möglichkeiten, sich mit der Welt zu vergleichen und Kontakte zu knüpfen. Im Moment fehlen der radikale Blick und die klare Anschauung. Das ist unsere harte Arbeit in der unsicheren Lage.

Übersetzung: Jamal Hassan Bearbeitung: Khalid Ahmad, Carmen Diehl, Michael Schmitz

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