1. Mai 2012 Tîgrana Farqîn

Rassismus – Kritik und Selbstkritik

Es ist paradox: Aber ich bin dankbar für den Rassismus in der Schweiz. Denn er hat mir erklärt, was für eine Verletzung Rassismus ist.

Es war in der Nacht vor Silvester. Ich war mit einem Freund auf dem Weg zum Limmatplatz. Nach der Langstrasse-Unterführung versperrten uns drei Männer den Weg und fragten uns nach einer Zigarette. Wir sagten, dass wir keine hätten. Sie versuchten uns zu beklauen. Wir versuchten wegzulaufen, doch sie liessen uns nicht. Schliesslich schlugen sie uns. Durch die Fusstritte wurde ich bewusstlos und erwachte erst auf der Notfallstation wieder.

Unschuldig in U-Haft

Ich war nur kurz auf der Station und blutete noch, als ich mich auf den Weg zur Polizeistation an der Zeughausstrasse machte, um Anzeige zu erstatten. Die ganze Prozedur dort dauerte zwei Stunden, der Polizist stellte Fragen, schrieb viel, ich musste Formulare ausfüllen und immer wieder warten. Der Umgangston war neutral. Ich war sehr gestresst, musste alle zehn Minuten eine Zigarette rauchen gehen. Der Polizist sagte mir, ich dürfe nicht weggehen. Ich sagte, ich sei ja freiwillig gekommen, da würde ich sicher nicht weglaufen. Am Ende teilte er mir mit, dass ich ebenfalls in Untersuchungshaft genommen würde.

Ich erschrak und antwortete, dass dies unmöglich sei, dass ich deswegen in Therapie ginge. Er sagte, er befolge nur das Gesetz, rief aber eine Ärztin, die nach 20 Minuten dort war. Es war eine SOS-Ärztin, sie stellte mir Fragen zur Posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD). Ein Polizist war während des Gesprächs dabei, trotz der ärztlichen Schweigepflicht. Im Gefängnis in der Türkei kamen auch immer Soldaten mit ins Arztzimmer. Es war eine sehr sensible Situation. Ich fühlte, dass die Polizei mich als Simulant hinstellte. Die Ärztin bemühte sich nicht, mich zu verstehen, und sagte mir schliesslich, dass die Gefängnisse in der Schweiz anders seien als in der Türkei.

Selbstmordgedanken wegen Traumatisierung

Es kam mir alles wie ein Spiel vor, ein abgekartetes Theater, ich war wie blockiert. Ich hatte nicht einmal die Kraft zum Erklären. Ich fühlte mich allein, heimatlos, ohnmächtig, ausgeliefert. Nie wurde mir Recht zuteil, nicht in der Türkei, nicht in der Schweiz. Das Aussehen reicht, um anders zu sein. Sie fragte mich noch nach Medikamenten, ich gab Remeron an. Da sie das nicht dabei hatte, verschrieb sie mir etwas, an dessen Namen ich mich nicht erinnern kann. Ich sei ja höchstens einen halben Tag im Knast. Dann ging sie. Ich hatte Mühe mit Atmen, mein Herz raste, ich zitterte. Ich wollte die Medikamente nicht nehmen, ich hatte kein Vertrauen in sie. Daraufhin wurde ich in eine kleine Zelle geführt, wo ich alle Kleider ablegen musste. Ein Polizist mit Handschuhen untersuchte alle Körperöffnungen, wie in der Türkei. Dadurch wurde der PTSD-Film stärker.


Ich empfand sehr stark, dass ich Ausländer bin, und dass es nirgends auf der Welt einen Platz für mich gibt.


Dann wurde ich von der Polizei wie ein Krimineller in Handschellen von der Zeughausstrasse durch einen unterirdischen Tunnel in die Kaserne gebracht. Es herrschte die gleiche Atmosphäre wie in Kurdistan auf dem Weg zum Gericht. Man bekam auf Fragen nur blöde oder gelogene Antworten. Ich wurde in die Zelle gebracht, wo ich zunächst drei Stunden allein war. Ich hatte sofort Selbstmordgedanken und fragte mich, was wohl als nächstes mit mir geschehen würde. Ich hatte keine Kraft, keine Geduld. Ich klopfte nach dem Wärter und sagte, ich müsse mit der Ärztin sprechen. Er sagte: «Warte ein bis zwei Tage. Hier hat jeder ein Problem, die Ärzte können nicht jeden sehen.»

Ich sagte, es gehe um Lebensgefahr, da ging er einfach weg, ohne mir zu antworten. Das war ein sehr schlimmer Moment für mich.

In der Nacht war das Neujahrsfeuerwerk, ich konnte aber auch sonst die ganze Nacht nicht schlafen. Am nächsten Tag fragte ich nach dem Pflichtverteidiger, doch man antwortete mir, ich sei nur kurz hier und bräuchte keinen Pflichtverteidiger. Alle würden einen Anwalt wollen.

Auch Sonntag Nacht schlief ich schlecht. Es war ein Gefühl wie in Kurdistan: Jederzeit kann jemand hereinkommen mit einem Stock oder mit Gas. Ich war in ständiger Alarmbereitschaft. Ich hatte auch keinen Appetit, und es gab nur vier Zigaretten pro 24 Stunden. Am Montagmorgen kam ich in grossen Stress. Anstatt zwei Stunden, wie angekündigt, war ich nun zwei Tage im Gefängnis gewesen. Wie würde es weitergehen? Ich hatte Angst.

Dokumente gibt es nur bei schweizerdeutscher Nachfrage

Nach dem Mittagessen wurde ich endlich freigelassen, zur gleichen Zeit wie der Mann, der mich verprügelt hatte. Innerlich empfand ich einen Sturm, aber ich konnte mich nicht ausdrücken. Ich empfand sehr stark, dass ich Ausländer bin, und dass es nirgends auf der Welt einen Platz für mich gibt. Ich wollte möglichst schnell weg. Im Auto stellte ich fest, dass die Berichte des Universitätsspitals fehlten, hatte aber Angst, nach Zürich zurückzukommen.

Am nächsten Tag habe ich nach dem Couvert des Spitals gefragt und die Situation erklärt. Die Polizistin meinte, sie könne es nicht herausgeben, ich solle den Hausarzt fragen. Am Mittwochmorgen kam eine Schweizer Kollegin mit mir mit. Sie fragte am Schalter auf Schweizerdeutsch und hatte das Problem nach drei Minuten gelöst.

Dieses Ereignis löste bei mir eine Reise in die Erinnerung aus, ein Flashback. Als ich als politischer Aktivist in Amed (Diyarbakir) lebte, arbeitete ich vor allem als Dolmetscher für europäische Menschenrechtsdelegationen. Ich bekam einen Anruf. Es war ein dänischer Freund. Er fragte mich, ob ich Zeit hätte. Ich sagte ihm ja. Dann trafen wir uns. Er war dort für ein Projekt des Roma-Rechtezentrums der Europäischen Union und der Helsinki Citizens’ Assembly. Sie wollten zusammen mit Roma einen Verein gründen, um deren Rechte, Kultur und Sprache zu stärken. Das Projekt gefiel mir sehr.

Vorurteile gegen Roma

Wir gingen in einen Slum, wo vor allem Roma leben. Wir wussten nicht, wie wir den ersten Kontakt herstellen sollten. Gleichzeitig bemerkten wir einen alten Mann, der eine verbotene kurdische Zeitung «Azadîya Welat» las. Ich dachte, er ist die richtige Person für uns. Aber ich wusste nicht, wie ich ihn fragen sollte. Es gab so viele Vorurteile in meinem Kopf, die die offizielle Perspektive mir gegeben oder die ich auf der Strasse gehört hatte: Die Roma sind Schmuggler, Diebe und gefährliche Leute. Die Lösung war: Ich fragte, ob es hier Musiker gebe. Der alte Mann schickte ein Kind zu einem Musiker. Wir warteten vor einem Slum-Kiosk. Diese Zeit schien mir viel länger als normal, wie ein ritueller Moment. Viele Fragen waren in meinem Kopf: Wer sind diese Leute? Was soll ich mit den Delegationsteilnehmern machen? Mit mir waren auch der Mazedonier Hidaver und der Norweger Gunnar, beide Roma und beide Wissenschaftler. Es ist nicht so einfach, dachte ich. Ich wachte aus meinem Gedanken mit einer Frage von Gunnar auf: Wie ist die Beziehung zwischen Roma und Kurden im Slum? Der alte Mann antwortete: Wie kann es eine Beziehung zwischen Leuten zweiter und dritter Klasse geben? Als Kurden sind wir zweite Klasse nach den Türken, und die Roma sind dritte Klasse nach den Kurden. Wir Kurden sind in einer sehr schlimmen Situation wegen des Kriegs und der Vertreibungen, aber die Situation der Roma ist noch schlimmer. Sie haben nicht Rechtewie normale Bürger_innen. Diese Analyse überraschte mich sehr und gab mir Ideen, wie ich eine Projektarbeit anfangen könnte.

Roma sind Bürger_innen dritter Klasse in der Türkei

Dann kam das Kind mit einem Mann. Er lud uns in sein Haus ein. Wie in einem kollektiven Haus teilen drei Familien das gleiche Zimmer, eine Ecke für das Bad, für die Küche, für die Matratzen. In einem 4-Zimmer-Gebäude wohnen zwölf Familien mit Kindern, total etwa 60 Leute . Hidawer hörte ein paar Wörter zwischen dem Vater und dem Kind. Ich konnte es nicht verstehen. Es ist eine Fremdsprache für mich. Und Hidawer fragte: «Welche Sprache sprecht ihr jetzt?» Der Mann sagte: «Die Sprache heisst Domani und wir sind Dom.»


Es gab so viele Vorurteile in meinem Kopf, die die offizielle Perspektive mir gegeben oder die ich auf der Strasse gehört hatte.


Ich realisierte, dass ich nicht wusste, wie diese Leute heissen. Mirtib, Karacschi, Asik oder Cingene sind alles diskriminierende Wörter, die ich draussen gelernt hatte. Dann fragte er: «Was heisst ‹Wasser› auf Domani?» Der Mann sagte: « ... » Dann sagte Hidawer «Die Türe» im mazedonischen Roma-Dialekt und der Mann verstand die Sprache. Die Dialekte sind fast gleich in Kurdistan und Mazedonien. Für Hidawer war das eine Überraschung, für mich eine doppelte: Das waren Leute, mit denen ich lebte, und ich hatte keine Ahnung über den Namen für diese Leute und ihre Sprache. Dom ist ein allgemeiner Name für sie, und Domani ist ihre Sprache.

Eine intensive Lehrzeit im Roma-Projekt

Es war so intensiv und eine starke Lehrzeit mit dem Projekt. Ich lernte auch Muhsin und Mehmet Abi in dieser Zeit kennen. Es waren wunderschöne acht Monate mit viel Dom-Musik. Es war eine Traditions- und Lebensuniversität für mich. Am Ende schämte ich mich wegen der Zeit vor dem Projekt. Aber ich versuchte meine Selbstkritik mit praktischer Arbeit im Vereinsgründungsprozess zu geben. Und der Dom-Verein war ein regelmässiger Ort für mich, wenn ich in der Stadt war. Am Ende gab es in der Stadt ein grosses Fest, zum ersten Mal auch mit 30 Dom-Leuten. Sie waren mit ihren Instrumenten ganz vorne im Umzug und führten Tänze und Musik auf, hinter dem Transparent «Dom-Kultur-Verein Diyarbakir». So lernten viele Leute das Wort «Dom» kennen und fragten sich, wer diese Leute sind.

Es ist nicht zu spät, sich zu schämen

Das war eine Erinnerung wie eine tiefe Verletzung. Als ich mich an diese Erlebnisse in Kurdistan erinnerte, schämte ich mich wegen meiner Vorurteile gegen die Dom-Leute. Denn in diesem Moment auf der Polizei in Zürich fühlte ich mich wie die Roma Mehmet Abi und Muhsin, die wegen ihrer Roma-Identität oft diskriminiert wurden. Bevor ich Dom-Leute getrofffen hatte, diskriminierte ich sie auch.

Ich schäme mich Muhsin, Mehmet Abi und den Dom-Leuten gegenüber wegen meiner vorherigen Gedanken. Ich kann es ihnen nicht direkt sagen, weil ich nicht in mein Heimatland gehen darf, aber die Projektarbeit macht meinen Schmerz leichter, wie ein Versuch zur Selbstkritik in der Praxis. Es ist nicht zu spät, diese Scham zu fühlen. Morgen kann es aber schon zu spät sein. Heute in der Schweiz gegen die rassistische Politik zu sein, ist nicht zu spät.

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