2. Juni 2025 Interview: Nadiia Kravchenko

Schutzstatus S: die Realität hinter den Statistiken

Seit Februar 2022 haben Zehntausende Ukrainer: innen in der Schweiz Zuflucht gefunden. Doch wie sehen ihr Alltag und ihre Integration wirklich aus? Vor dem Hintergrund aktueller Diskussionen über die Zukunft des Schutzstatus S und die steigenden Belastungen für das Asylsystem sprechen wir mit zwei Frauen, die unterschiedliche Erfahrungen gemacht haben.

Irina (35), allein mit zwei Söhnen: «Ich konnte meine Kinder nicht länger dieser Gefahr aussetzen» 

Irina, wann sind Sie in die Schweiz gekommen? 

Im August 2024. 

Wie verlief Ihr Antrag auf Schutzstatus S? 

Ich bin dankbar, dass ich aktuell mit meinen Kindern in der Schweiz sein kann. Leider haben wir den Schutzstatus S bis heute nicht erhalten. 

Warum nicht? Hat man Ihnen eine Begründung gegeben? 

Ja. Uns wurde mitgeteilt, dass wir unter die Dublin-Verordnung fallen, weil wir 2022 einige Monate in Italien verbracht haben. Damals gab es jedoch noch keine Einschränkungen für Rückkehrer. Nach eineinhalb Jahren unter schwierigen Bedingungen in Mykolajiw (im Süden der Ukraine) – ohne Wasser, ohne Strom, unter ständigem Beschuss – konnte ich meine Kinder nicht länger dieser Gefahr aussetzen. Da sie schlechte Erfahrungen in Italien gemacht hatten, wollte ich ihnen das nicht noch einmal zumuten. Deshalb sind wir in die Schweiz gekommen, wo eine enge Freundin von mir lebt. 

Wie sind Ihre aktuellen Lebensbedingungen? 

Nach einem ersten Aufenthalt in einem Notunterkunftsbunker haben wir eine kleine Einzimmerwohnung in einem Dorf, eine Stunde von Zürich entfernt, bekommen. Die Bedingungen sind gut: Wir haben Strom, sauberes Wasser und müssen keine Angst vor Raketenangriffen haben. Mein jüngster Sohn geht in eine Integrationsklasse, mein älterer Sohn und ich besuchen seit drei Monaten einen Deutschkurs. Allerdings kann mein älterer Sohn hier nicht zur Schule gehen. 

Warum nicht? 

Er ist gerade 18 geworden. In der Schweiz sollte er jetzt eigentlich studieren. Aber ohne Schutzstatus und ohne Sprachkenntnisse ist das nicht möglich. Und obwohl wir Einspruch gegen die Ablehnung unseres Asylgesuches eingelegt haben, wissen wir nicht, ob wir den Schutzstatus überhaupt erhalten werden. 

Wie kommen Sie finanziell zurecht? 

Wir bekommen zu dritt etwas mehr als 1200 Franken im Monat. Das ist sehr wenig. In der Ukraine habe ich mehr verdient, obwohl das Preisniveau dort viel niedriger ist. Ich würde gern arbeiten, aber ohne Schutzstatus ist das unmöglich. Ursprünglich habe ich den Beruf der Coiffeuse gelernt, und die letzten fünf Jahre habe ich als 3D-Künstlerin gearbeitet. 

Was denken Sie über die Friedensverhandlungen? 

Ich bin der Meinung, dass es keinen Frieden geben wird, solange Russland nicht für seine Kriegsverbrechen bezahlt. Ich werde nicht zurückkehren und meine Kinder nicht in die Ukraine bringen, bis es Sicherheitsgarantien gibt und Russland besiegt ist. Ich möchte nicht, dass meine beiden Söhne kämpfen müssen und ständig in Angst vor dem Tod leben. Die Ukraine wird nicht zu Frieden, sondern zu Verhandlungen gedrängt. Doch wir haben bereits 2014 Verhandlungen geführt – und was haben wir am Ende bekommen? Eine neue Invasion im Jahr 2022. Russland hat keine Vereinbarung eingehalten und wird dies auch in Zukunft nicht tun. Warum sollte es das plötzlich tun, wenn es durch die Verletzung aller internationalen Regeln und Normen nur Vorteile erhält und keine Bestrafung erfährt?

Natalia (49), alleinstehend: «Wer stellt jemanden ein, der vielleicht in einem Jahr abgeschoben wird?» 

Natalia, wann sind Sie in die Schweiz gekommen? 

Im März 2022, also mit der ersten Flüchtlingswelle. 

Wie verlief Ihr Antrag auf Schutzstatus S? 

Ich kam damals mit Tausenden anderen, die aus der Ukraine geflüchtet sind. Wir wurden in einem ehemaligen Spital untergebracht und haben dort eineinhalb Monate auf unsere Bewilligungen gewartet. Danach kam ich in eine Unterkunft für Frauen (WG), wo ich bis heute lebe. 

Wie erleben Sie die Integration? 

Sehr schwierig. Ohne eine langfristige Perspektive ist es fast unmöglich, Arbeit zu finden. Ich habe in drei Jahren so viele Absagen erhalten, dass ich es kaum noch versuche. Ich besuche zwar Deutschkurse, aber mir fehlt die Möglichkeit, die Sprache im Alltag zu üben. Ehrlich gesagt bin ich ziemlich demotiviert. 

Kommen Sie mit dem Sozialgeld aus? 

Nicht wirklich. Zürich ist extrem teuer. Ich bekomme 700 Franken im Monat, das reicht nicht für alles Nötige. Als ich mir eine neue Winterjacke kaufen musste, konnte ich mir einen Monat lang kein Ticket für den öffentlichen Verkehr leisten. Über Friseurbesuche, Sportkurse oder Fitness muss ich gar nicht erst nachdenken. 

Welchen beruflichen Hintergrund haben Sie? 

Ich habe ein Studium in Wirtschaftswissenschaften abgeschlossen und 13 Jahre lang in der Steuerverwaltung gearbeitet. Mir ist klar, dass ich in meinem Beruf in der Schweiz nicht einfach weiterarbeiten kann. Aber ich wäre bereit, eine neue Ausbildung zu machen. Ich habe zusätzlich Erfahrung in einer Bank. Leider gibt es für uns kaum Programme, die eine echte qualifizierte Integration in den Arbeitsmarkt ermöglichen. Die einzigen staatlichen Kurse, die angeboten werden, sind für Pflegekräfte, Köche und Reinigungskräfte. 

Wie sehen Sie Ihre Zukunft in der Schweiz? 

Die Situation ist sehr unsicher. Die parlamentarische Initiative der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats (SPK-N), Ukrainer: innen mit Schutzstatus S bereits nach drei Jahren eine Aufenthaltsbewilligung zu geben, wurde abgelehnt. Ohne diese Perspektive werden auch Arbeitgeber:innen nicht in uns investieren. Wer stellt jemanden ein, der vielleicht in einem Jahr abgeschoben wird? Ich sehe keine Lösung, solange wir nur mit einem provisorischen Schutzstatus hier sind. 

Was denken Sie über die Friedensverhandlungen? 

Es handelt sich um Verhandlungen zur Einfrierung des Krieges. Russland wird uns niemals in Ruhe lassen, weil wir das einzige Hindernis für die Eroberung Europas sind. Wenn man die aktuellen Handlungen Trumps betrachtet, kann man mit Sicherheit sagen, dass die USA nicht für Europa kämpfen werden. Die USA haben sich 2014 nicht eingemischt, obwohl sie Unterzeichner des Budapester Memorandums waren, was zu einer gross angelegten Invasion 2022 führte. Und auch diesmal wollen die USA nichts gegen Russland ausrichten. Sie interessieren sich jetzt nur für ihren eigenen Vorteil, genau wie Russland. Es geht ihnen nicht um Sicherheit. Denn Kriegsverbrecher werden nicht bestraft, und jedes diktatorische Land tut, was es will. Niemand will kämpfen. Wir auch nicht. Aber wenn wir es nicht tun, werden wir alles verlieren: Demokratie, Freiheit, Zukunft.


Was die Autorin dazu denkt

Die Realität hinter den Statistiken zeigt: Während der Schutzstatus vielen Menschen Sicherheit bietet, bleiben Fragen zur langfristigen Integration offen. Besonders die Unsicherheit über die Zukunft erschwert sowohl Geflüchteten als auch potenziellen Arbeitgeber: innen die Planung, denn der Schutzstatus ist nur provisorisch. Ukrainische Kinder sind jetzt für drei Jahre in Sicherheit. Was wird aber aus ihnen, wenn sie in die Ukraine zurückkehren müssen, ohne Sicherheitsgarantie? Niemand kann garantieren, dass es irgendwo in der Ukraine sicher ist. Denn so ist es nicht: Das ganze Land wird bombardiert, und Russland zerstört weiterhin gezielt und völkerrechtswidrig Kliniken und Schulen. Ist es menschlich, Menschen sich selbst zu überlassen, die weder Perspektiven noch Zukunft haben?

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