10. September 2018 Younes Tahir

Das Schwierige und das Schwierigste

Das Leben ist nie ohne Schwierigkeiten, sie sind das Gegenstück zum Glück. Besonders, wenn man Sans Papiers ist. Dennoch müssen wir unsere Träume verteidigen - Eine philosophisch-literarische Reflexion

Das Schönste im Leben ist wohl das Leben selbst. Das Leben zu fühlen, ist ein Gefühl der Gnade, das fast niemand beschreiben kann. Das Leben ist gleichbedeutend mit all den schönen Dingen des Universums. Glück, Schönheit, Liebe, Menschlichkeit, Mitleid, Gemütlichkeit und vieles mehr ... eine lange Liste, die wegen ihrer Vielfalt nie wirklich vollständig ist.

Das Leben ist aber auch nicht ohne Schwierigkeiten. So scheint es, als hätten alle schönen Gefühle oder Dinge im Leben ihr Gegenstück: Mit dem Glück gibt es die Traurigkeit, mit der Schönheit gibt es die Hässlichkeit, mit der Vertrautheit gibt es die Trennung, mit der Liebe gibt es den Hass, mit dem Mitleid die Ungerechtigkeit. Es ist, als wären die Gefühle Tassen: Wenn du von einer trinkst, musst du auch von ihrem Gegenstück probieren. So sind auch Schwierigkeiten untrennbar mit dem Leben verknüpft.

Aber Schwierigkeiten sind unterschiedlich; von einem Menschen zum anderen und von einem Ort zum anderen.

Es ist schwierig, gegen den Strom zu schwimmen, weil es viel Muskelkraft und Wissen erfordert – aber es ist schwieriger, weiter zu schwimmen, wenn dein Boot im Mittelmeer untergeht. All deine Muskeln und dein Wissen können dir nun nicht mehr helfen.

Es ist schwierig, zu schlafen, wenn dein Kopf beschäftigt ist – aber es ist schwieriger, zu schlafen, wenn in deinem Schlafzimmer mehr als ein Dutzend Leute sind. Manche sind betrunken, sie haben physische oder psychische Schmerzen, und dein Schlafzimmer hat auch keine Tür, die du schliessen kannst.
Es ist schwierig, wenn du Flüchtling bist – am schwierigsten ist es jedoch, wenn du Sans-Papiers bist.

Es ist schwierig, allein zu sein – am schwierigsten ist es jedoch, wenn du von der Gesellschaft isoliert bist.  Es ist schwierig, kein Zuhause zu haben – am schwierigsten ist es jedoch, keinen Platz in der Gesellschaft zu haben. Es ist schwierig, im Gefängnis zu sein – aber es ist schwieriger, wenn du nicht verstehst, was für ein Verbrechen du begangen hast, dass du jetzt hinter Gittern bist.

Es ist schwierig, wenn du mit einem geliebten Menschen sprichst und vermisst wirst. Du möchtest deine Liebe sehen, aber dann merkst du, dass es zu spät in der Nacht ist, und es keinen Bus oder Zug mehr gibt, der dich hinfährt – am schwierigsten ist es jedoch, wenn du mit deiner Mutter sprichst und sie dir sagt, wie sehr du nach all den Jahren der Trennung vermisst wirst, und dann merkst du, dass ihr durch ein Meer getrennt seid.

Es ist schwierig, eine Zeit zu erleben, in der deine Augen immer voller Tränen sind, du weinst um ganz einfache Dinge – am schwierigsten ist es jedoch, wenn diese Tränen ihren Weg ändern und nicht mehr deine Wangen hinunterfliessen.  Sie fliessen nach innen und ertränken dein Herz. Das sind die Tränen der Unterdrückung; sie sind die bittersten von allen.

Wenn du die Berge nicht magst und nicht gern spazieren gehst, ist es schwierig für dich, wenn dich deine Freunde überreden, in den Bergen zu wandern – aber am schwierigsten ist es jedoch, monatelang, jahrelang Berge, Flüsse und Wüsten zu durchqueren, um endlich in Westeuropa anzukommen und mit einem "Negativentscheid" empfangen zu werden.

All diese grossen und kleine Schwierigkeiten haben einen Einfluss auf das Leben der Person, die sie durchlebt. Manchmal bleiben die Schwierigkeiten lange Zeit oder sogar für immer, und das kann eine radikale Veränderung im Verhalten dieser Person bewirken. Das ist der Grund, warum wir manchmal Leute sehen, die das Lächeln aus ihrem Gesicht verlieren, obwohl dieses Lächeln zuvor die ganze Zeit dort war.

Der eine, der früher ein weiser Mann war und vielen Menschen Ratschläge gab, der ein Vorbild war, ist heute – nach Jahren als Sans-Papiers – nicht mehr derselbe. Er kann nicht aufhören zu trinken und jetzt braucht er jemanden, der ihm sagt: "Wach auf! Alles, was passiert ist, war nur ein Traum." Er braucht jemanden, der ihm sagt, dass all seine Schmerzen vorüber sind und dass der Albtraum endlich vorbei ist.

Der andere ist wegen seiner vielen Sorgen aggressiv geworden. Er war in seiner Vergangenheit immer sehr ruhig und geduldig und kannte keine Wut. Aber jetzt stört ihn alles, was es gibt. Er wählte die Einsamkeit, nachdem er isoliert worden war.

Und jenen siehst du die ganze Zeit am Lachen. Er erzählt immer Witze. Aber in seinen Augen siehst du tausend Tränen. Er lässt seine Tränen jedoch nicht fliessen. Er will stark wirken. Doch wenn er allein ist, weint er manchmal still. Er will seine Mitmenschen nicht stören.

Es ist wahr, dass diese Beispiele sehr traurig sind. Aber es ist eine Realität, dass es diese Leute auf dieser Welt gibt. Sie sind unter uns. Manchmal verstehen wir nicht, wieso sie sich so benehmen. Manchmal verurteilen wir sie sofort, ohne ihre Geschichte zu kennen. Manchmal haben wir keine Geduld, um ihre Situation zu verstehen.

Wir wissen nicht, wem wir die Schuld für all das geben sollen: Der Ungerechtigkeit, der Weltpolitik, dem Kapitalismus ... oder vielleicht der Demokratie?  Sicher ist nur: Irgendetwas auf dieser Welt funktioniert nicht, wenn die Mehrheit leidet.

Aber was auch immer die Schwierigkeiten sind, gross oder klein; wenn wir sie wachsen lassen und sie sich in Ängste verwandeln, die uns die ganze Zeit begleiten, ist das das grösste Problem.

Denn unser schlimmster Feind ist die Angst. Die Angst vor dem Problem.  Die Angst vor dem Morgen. Die Angst vor dem Unbekannten.

Im Zustand der Angst können wir unsere Situation nicht ändern und treten stattdessen in den Teufelskreis des Scheiterns. Wir müssen uns unseren Problemen stellen und der erste Freund, der uns dabei helfen kann, ist die Geduld. Wir müssen auch wissen, dass ein Tag kommen wird, an dem all das verschwindet – wenn wir Widerstand leisten und versuchen, stark zu bleiben.

Man sagt, dass die Grossen das grosse Problem klein sehen und die Kleinen das kleine Problem gross sehen. Unsere Pflicht ist es, uns nicht aufzugeben. Wir müssen unsere Träume und Ziele verteidigen, und wir werden nicht mit Stärke gewinnen, sondern indem wir Widerstand leisten.

Wir sind anders. Aber wir müssen stolz darauf sein. Es ist wahr, dass das Leben hart ist. Aber du musst härter sein, wenn du leben willst.

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