1. August 2018 Eine Gruppe besorgter Nachbar*innen

Sehr geehrter Herr Federspiel, reden Sie mit Ihren Nachbar*innen

Der Autor Maurus Federspiel schwadroniert im Tages-Anzeiger über seine Ängste wegen der Zuwanderung in die Schweiz. In diesem offenen Brief antwortet ihm eine Gruppe besorgter Nachbar*innen - und gibt ihm etwas Zuversicht auf den Weg.

Sehr geehrter Herr Federspiel

Als erstes möchten wir uns bei Ihnen bedanken. Dafür, dass Sie uns zu verblüffen vermochten. 

Sie schreiben, Sie hätten Sorgen. Sie schreiben, Sie fühlten sich fremd in Ihrem Quartier. Dürfen wir Sie fragen, ob Sie jemals mit einem Ihrer Nachbar*innen gesprochen haben? Sie nach ihren Träumen, Zukunftsvisionen, Wünschen, Ängsten und Sorgen befragt haben? Haben Sie sich die Mühe gemacht, Ihre Nachbar*innen kennenzulernen? Oder waren sie Ihnen zu unsympathisch, da Sie sie aus einem nicht-europäischen Land vermuten?

Integration sei eine Bringleistung, schreiben Sie. Haben Sie den Begriff so definiert? Denn etymologisch betrachtet bedeutet „Integrieren“: wiederherstellen, ergänzen, erneuern, auffrischen, vervollständigen, in ein grosses Ganzes eingliedern. Wenn Sie nun diesen Begriff auf das gesellschaftliche Zusammenleben anwenden wollen, dann heisst es wohl eher so etwas wie Austausch, gegenseitiges aufeinander Zugehen. 

Haben Sie schon einmal im Ausland gelebt, Herr Federspiel – oder waren da für länger oder immer wieder mal am selben Ort in den Ferien? Und machten Sie auch die Erfahrung, dass mensch überall zuhause sein kann, vorausgesetzt, die Leute die da leben, können auch Freund*innen werden? Vorausgesetzt also, Sie haben Anschluss an ein soziales Netz? (Dass es hierfür auch einer existenzsichernden Grundlage bedarf, wissen Sie wohl ebenso gut wie wir.)  Glauben Sie nicht auch, dass es deshalb so viele Auslandschweizer*innen gibt? Weil jede dieser rund 750'000 Personen an dem Ort, an den sie hinwanderten, in irgendeiner Weise gut aufgenommen wurden?


Dürfen wir Sie fragen, ob Sie sich auch ob der Parallelgesellschaften der Superreichen in den Villen am Zürichberg, am Genfersee oder in St. Moritz fürchten?


Sie schreiben, Sie hätten ein ungutes Gefühl bezüglich Parallelgesellschaften. Dürfen wir Sie fragen, ob Sie sich auch ob der Parallelgesellschaften der Superreichen in den Villen am Zürichberg, am Genfersee oder in St. Moritz fürchten? Die Vermögenskonzentration auf wenige Menschen in der Schweiz ist immens – weltweit steht die Schweiz an fünfter Stelle: Nur in vier weiteren Staaten konzentriert sich der Reichtum auf noch weniger Personen. 

Die Zahl, die Sie nennen, die 25 Prozent in der Schweiz wohnenden Menschen ohne schweizerische Staatsbürgerschaft, diese Zahl ist in der Tat alarmierend. Das bedeutet nämlich, dass rund ein Viertel der hier lebenden Menschen kein politisches Mitspracherecht hat! Und somit wären wir wieder beim Begriff der Integration – und der Parallelgesellschaft: Diese Zahl zeugt von einer eklatanten Unfähigkeit des schweizerischen Staates, Menschen, die hier leben, lieben, arbeiten – und somit auch die hiesigen Sozialwerke kräftig mitfinanzieren – als Mitbürger*innen anzuerkennen. Denn Integration ist ein mindestens zweiseitiger Prozess. Und Mitspracherechte sind hierfür zentral. Dass die Schweiz eines der langsamsten und resistentesten Länder bezüglich dieses Mitspracherechts ist, haben nicht zuletzt die hier lebenden Frauen erfahren müssen – trotz des eigentlichen Glücks, die schweizerische Staatsbürgerschaft zu haben. Mitspracherechte müssen in der Schweiz hart erkämpft werden, leider, das ist eine traurige Realität, die immer wieder in Frage gestellt werden soll!   

Kinder gehen für gewöhnlich zu Nachbarskindern und fragen sie, ob sie mit ihnen spielen kommen. Heute tun dies unsere Kinder, Nichten, Neffen und Patenkinder auch. Und so spielt Eva mit Samsam, spielt Marielle mit Ruta, spielt Mustafa mit Jakob, Fabienne mit Reto und Max mit Masha. Und sie teilen auch die Schulbank. Sie lernen, dass es in vielen Religionen ein Lichterfest gibt. Im Hinduismus heisst es Divali, im Islam Mevlid Kandil, im Buddhismus Pavarana, im Judentum Chanukka und im Christentum Weihnachten. Sie lernen viel – und viel mehr als viele von uns noch, damals, als wir zur Schule gingen. 


Kinder von heute wissen, dass Menschen mehrere Zuhause haben können.


Sie wissen, dass es unzählige andere Schriften gibt als die lateinische, dass es eine riesen Leistung ist, eine komplett neue Sprache und Schrift zu lernen. Sie wissen, dass Menschen mehrere Zuhause haben können – und für jedes dieser Zuhause auch Liebe aufbringen können. Sie lernen, was Rassismus heisst; beispielsweise wenn weisse Menschen bar jeder Grundlage ein Szenario aufbauen, in dem schwarze Menschen weisse Menschen bedrohen würden – wenn es doch in Realität eher umgekehrt ist, und das nicht nur in den USA, sondern auch hier in der Schweiz. (Zur Auffrischung des Gedächtisses hier ein Link). Rassistische Aufwiegelei ist brandgefährlich für eine Gesellschaft. 

Das wissen Kinder von heut bereits mit 11 Jahren. 
Und das stimmt uns höchst zuversichtlich!

Denn, Hand aufs Herz, Herr Federspiel, uns scheint, dass viel eher Sie in einer Parallelgesellschaft leben. Wir, die wir hier leben, hier geboren und auch nicht, und die Kinder, die uns umgeben, sind nämlich schon längst Freundschaften, Liebschaften und Familienschaften eingegangen, die vielsprachig, vielgestaltig und vielwissend sind. 

Sehr geehrter Herr Federspiel, auch wir haben Ängste. Wir haben Angst vor einem zunehmenden Rechtsrutsch mit faschistischen Tendenzen in Europa. Wir haben Angst vor dem wachsenden Graben zwischen Arm und Reich – weltweit, aber auch in der Schweiz. Denn es sind nicht die Sozialgelder, die schmerzen, sondern die riesigen Summen an Geldern, die am Fiskus vorbeigeschleust werden; hier in der Schweiz ebenso wie möglicherwiese in Ländern Ihrer neuen Nachbar*innen. Eine Schätzung für die Schweiz aus dem Jahr 2014 ging von einer Summe von bis zu 30 Mrd Franken jährlich aus.  


Sehr geehrter Herr Federspiel, auch wir haben Ängste.


Angst macht uns auch die immer wieder hervorgeholte Lüge, es seien Zuwandererinnen, die letztlich für mehr Rassismus sorgten: Ohne Zuwanderung keinen Rassismus und keinen Rechtsrutsch in Europa, so das Narrativ. Obwohl jedem Menschen mit Verstand die Augenwischerei dieser Argumentation klar sein sollte: Gewalt gegen Frauen haben wir schliesslich auch nicht der Anzahl hier anwesenden Frauen zu verdanken. Und den Antisemitismus auch nicht den Juden. Es sind genau solche brandgefährliche Kurzschlüsse, die uns grosse Sorgen bereiten.
(Als Literat seien Ihnen an dieser Stelle folgende Romane empfohlen: «Americanah» von Chimamanda Ngozi Adichie und «Tauben fliegen auf» von Melinda Nadj Abonji).  

Wir haben Angst vor der zunehmenden rechtskonservativen Aufwiegelei gegen uns, unsere Verwandten, unsere Freundinnen und Freunde. Wir haben grosses Unbehagen ob der weissen, selbstherrlichen Männer, die, um ihrem Rassismus zu frönen, feministische Parolen missbrauchen. Die plötzlich den Feminismus für sich entdeckt haben möchten, um alle Frauen auf der Welt vor dem bösen Fremden zu retten. Ein im übrigen klassischer, kolonialer Topos: „Weisser Mann rettet braune Frau vor braunem Mann“. (Gayatri Chakravorty Spivak: Can the Subaltern Speak?, in: Williams, Patrick, Laura Chrisman (eds.): Colonial Discourse and Postcolonial Theory: A Reader. New York: Columbia University Press, 66–111).

Wir haben Angst vor den Unwahrheiten, die über den Islam verbreitet werden – wir haben viele Freundinnen und Freunde, die einer muslimischen Gemeinschaft angehören. Wir haben buddhistische, jüdische, christliche und hinduistische Freundinnen und Bekannte. Und auch Atheist*innen zählen zu unserem Freundeskreis. Alle diese Freundinnen und Bekannte unterscheiden sich in ihrer Haltung zur Religion. Die einen feiern Weihnachten, die anderen nicht. Die einen fasten an Ramadan, die anderen nicht. Die einen besuchen die Synagoge oder den Tempel, andere nicht. 
Und alle haben sie ein Interesse an den sie umgebenden Menschen und Lebensentwürfen.

Wäre nicht das eine Vision für die Schweiz? Eine Schweiz, die all jene mitgestalten dürfen, sollen und können, die da leben und das auch wollen? Doch hierzu muss man den Menschen zuerst einmal die Möglichkeit geben. Sie als Mitbürger*innen, Mitarbeiter*innen und Nachbar*innen anerkennen. 


Unser Schreiben hätte auch wütender ausfallen können. Doch wir wollen auf die Zukunft und die Zuversicht setzen.


Sehr geehrter Herr Federspiel, haben Sie bereits einmal die Erfahrung gemacht, dass Sie eine Stelle oder eine Wohnung nicht bekamen, aufgrund Ihres Nachnamens? 

Die Kinder, die uns umgeben, sie heissen Fatma, Bruno, Anna, Musti, Rahel, Reto, John, Chiara, Noah, Maria, Samira, Urs, Aylin, Juli, Pritesh, Rita, Pedro, Aglaja, Sara, Vian, Mika oder Renée, sie lernen, dass dieser kleine Fleck auf der Welt, der Schweiz genannt wird, nicht etwa aus dem Boden gewachsen ist, wie das Unkraut im Schrebergarten. Sondern immer schon durch diejenigen Menschen mitgestaltet wurde, die den Fleck bewohnten. Ob ihnen nun Bürgerrechte zugestanden wurden oder nicht. (Denken wir beispielsweise an all die Arbeitskämpfe in der Schweiz, die zu einem Grossteil von Menschen ohne schweizerische Staatsbürgerschaft mitgetragen wurden und werden – und von denen letztlich alle in der Schweiz arbeitenden Menschen profitieren.)  
Sie lernen auch, dass dieser Fleck von vielen Kriegen verschont blieb, teils dank schierem Glück, teils dank mörderischem Kalkül. Und dass der Reichtum, der dieses Land zu einem grossen Teil ausmacht, u.a. auch auf Sklavenhandel und Sklavereiwirtschaft sowie auf Geschäften mit Geld, Waffen und Rohstoffen aus den Herkunftsländer einiger ihrer Mitschüler*innen beruht. Dass die Ururgrossmütter und -väter von wiederum anderen Mitschülerinnen aus der Schweiz auswanderten, in der Hoffnung, in Übersee ein besseres Leben führen zu können. Und: Wussten Sie, dass die Schweiz ihren ursprünglichen Namen über Umwege einer keltischen Gruppe von Menschen zu verdanken hat (den Helvetier*innen), die bloss für äusserst kurze Zeit überhaupt in dieser Region ihre Zelte aufgeschlagen hatte?

Die Schweiz ist also genauso wenig wie der Rest der Welt ein hermetisch abgeriegelter Guckkasten, der sein Inneres konserviert und von allen äusseren Einflüssen abschirmt. Und wir sind sehr froh darum! (Stellen Sie sich alleine schon die Luftverhältnisse in solch einem Guckkasten vor...)   
All dies und vieles mehr können die in der Schweiz lebenden Kinder von heute lernen. 
(Und auch Sie! Literaturtipp: A. Holenstein, P. Kury, K. Schulz: Schweizer Migrationsgeschichte: Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Zürich 2018.)

Und genau das stimmt uns trotz unserer Sorgen zuversichtlich. 

Unser Schreiben hätte auch wütender ausfallen können. Doch wir wollen auf die Zukunft und die Zuversicht setzen.

Wir hoffen, dass wir Ihnen ebenfalls ein Stück dieser Zuversicht auf den Weg geben konnten.
Zum Schluss möchten wir Ihnen noch eine kleine Empfehlung mit auf den Weg geben: Reden Sie mit Ihren Nachbar*innen. Denn Ihre Nachbar*innen verstehen Ihre Sprache bestimmt. Oder noch besser: Reden sie mit deren Kindern. Fragen Sie sie nach ihren Zukunftsvisionen. Nach ihren Träumen – und nach ihren Ängsten. Die Antworten werden Sie wohl mindestens ebenso verblüffen. 

Mit freundlichen Grüssen,

Anja Suter, Zürich
Sara Bernasconi, Zürich 
Rita Bernasconi, Zürich
Bruno Bernasconi, Zürich
Ayana Elam, Zürich
Elisabeth Joris, Zürich
Melanie Eva Böhi, Basel 
Corinne Gerber, Zürich
Shelley Berlowitz, Zürich
Eveline Müller, Zürich
Nanda Moghe, Zürich
Eva Linder, Zürich
Barbara Lienhard, Zürich
Anne Käthi Wehrli, Zürich
Jelica Popović, Zürich
Aglaja Popović, Zürich
Michael Züger, Zürich
Francesca Falk, Fribourg
Simona Isler Vega Trabucco, Bern
Sibylle Hausegger, Zürich
Céline Angehrn, Basel
Tyna Fritschy, Bern
Maria Strobel, Zürich      
Angelika Strobel, Zürich
Peter-Paul Bänziger, Zürich
Aisha Fahmy, Zürich
Simon Litwan, Zürich
Joanna Simonow, Zürich
Tim Eschke, Zürich
Sim Gerber, Zürich
Eva, Ermatinger, Zürich
Sarah Schilliger, Bern
Regula Suter, Zürich
Muriel Teitelbaum, Zürich
Peter Haberstich, Zürich
Tom Litwan, Zürich
Joséphine Hosse, Zürich
Rachel Buehlmann, Aarau
Tabea Leutwyler, Aarau
Mich Wyser, Rupperswil
Anna Haller, Zürich
Esther Litwan, Basel
Sara Conoci, St. Gallen
Nicole Weiss, Zürich
Katharina Haller, Kaltenbach
David Roth, Zürich
Božena Čivić, Zürich

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