1. März 2014 Harika und Raphael Jakob

«Seit die Religionen in die Schlösser eintraten, sind sie keine richtigen mehr»

Ein Interview mit dem Schriftsteller Ihsan Eliacik über die Gezi-Proteste, den antikapitalistischen Islam und Religion als Opium.

Herr Eliacik, können Sie sich bitte vorstellen?
Ich nehme mich als einen antikapitalistischen und revolutionären Muslim wahr. Ich vertrete die Meinung, dass es einen Teil im Islam gibt, der mehrheitlich freiheitlich und antikapitalistisch ist. Ich arbeite auch in diesem Sinne und zwar habe ich eine Übersetzung des Korans gemacht, welche sehr stark die freiheitliche Seite des Islams beschreibt. Ich habe auch mehrere Bücher geschrieben, die enthüllen sollen, was Islam wirklich bedeutet. Momentan schreibe ich ein Buch, welches «Die andere Geschichte des Islams» heisst. Für dieses Buch recherchiere ich die revolutionären Elemente der Islam- Geschichte.

Wie kann man als gläubige*r  Muslim*in auch antikapitalistisch sein?
Ich glaube nicht daran, dass ein*e gläubige*r Muslim*in auch Kapitalist*in sein kann. Der Koran empfiehlt nicht, dass nur einzelne die Gottesgabe auf der Erde besitzen sollten. Vielmehr sollte jede*r von diesen Möglichkeiten, die es auf der Welt gibt, gleich viel bekommen. Alle Propheten hatten Widerstand geleistet gegen die Ungleichheit in der Gesellschaft und gegen ungerechte Systeme, in denen sie lebten. Sie alle waren revolutionär.

Was gibt es für Unterschiede zwischen den antikapitalistischen Muslim_innen und den traditionellen Muslim*innen oder Kemalist*innen?
Die Ideen, die wir vertreten, entstehen neu. Sie werden nicht nur auf sozialer Ebene, sondern auch auf einer politischen Ebene diskutiert und weiter entwickelt. AKP (die Regierungspartei) und CHP (die kemalistische Opposition) sind sich ähnlich, was Politik und Wirtschaft betrifft. Herrschaft ist für sie die politische Grundlage. Fast alle politischen Parteien sind gleich. Sie behaupten die Herrschaft durch abstrakte Begriffe. Zum Beispiel: «Wir haben für die Herrschaft Allahs einen Islamstaat gegründet» oder «Für die Diktatur der Proletarier*innen übernimmt die kommunistische Partei die Regierung» oder «Damit die Türk*innen herrschen, müssen die Kurd*innen unterdrückt werden». Diese Identitäten sind abstrakte Begriffe. Das sind klassische Annäherungen. Nicht nur die CHP, sondern auch die AKP möchte als einzige Machthaberin sein. Sie übernehmen die Regierung und möchten sie von den anderen säubern. Auch was das Wirtschaftsprogramm betrifft, gleichen sie sich. Sie haben beide keine Kritik gegenüber dem Kapitalismus und dem Eigentum. Die eine Partei nimmt sich vor, anhand sozialstaatlicher Massnah- men die Situation der Armen zu verbessern, die andere macht dies durch Almosen oder Armensteuer. Aber sie hinterfragen nie grundsätzlich das System als solches. Wir sehen uns in diesem Sinne nicht als Gegner*innen dieser Annäherungen, weil wir sowieso keine politische Partei sind, sondern eine politische Strömung. Wir sind eine Gruppe von Menschen, welche die Rolle des Islams in der Geschichte als revolutionär annehmen.

Warum haben sich die Antikapitalistischen Muslim*innen an den Gezi-Protesten beteiligt?
Wir unterscheiden Menschen nicht als Gläubige oder Ungläubige. Im Koran werden die Menschen als Unterdrücker*innen und Unterdrückte unterschieden. Wenn ein Mensch nicht gläubig ist, ist das kein Grund für einen Krieg. Aber wenn ein Mensch unterdrückt, dann muss man sich gegen ihn wehren. Man darf einen unterdrückten Menschen nicht aufgrund seines Glaubens, seiner Herkunft, Sprache oder Identität verurteilen. Diese Unterscheidungen sind soziologisch und sie gelten nicht für uns. Mit diesem Glauben waren wir in Gezi.

Was haben Sie in den Gezi-Protesten erlebt?
Meiner Meinung nach sucht der Gezi-Geist jetzt einen neuen Körper. Dort hat man 19 Tage ohne Regierung gelebt. Wir haben alle gesehen, dass ein Staat nicht nötig ist. Die Gruppen, die normalerweise in Streit geraten würden, liessen sich nicht einmal provozieren und waren sehr respektvoll einander gegenüber, was den Staat in Panik versetzte. Die Solidaritätskultur hat sich verstärkt. Verpflegung, Unterkunft, Gesundheitsp ege, alles war kostenlos. Die Hegemonie der Besitzer*innen dieser Mög- lichkeiten war verschwunden. Es waren ganz unterschiedliche Menschen und Gruppen anwesend, welche auch ihre Transparente oder Flaggen dabei hatten. Die Menschen hatten da einen sehr schönen Traum, und alle schönen Träume sind zum Wahrwerden da.

Die Linken haben zum ersten Mal Sympathien für eine islamische Gruppe. Was denken Sie darüber?
Es gab vorher nie eine islamische Gruppe, die uns ähnlich war. Das wird alles zum ersten Mal erlebt und viele Menschen freuen sich darüber. Wir sind uns bewusst, dass wir vor einer Zeitwende stehen und eine Mission dafür haben. Natürlich ist es für die Menschen in der Türkei interessant, dass eine islamische Gruppe eine islamische Regierung kritisiert. Wir legen den Grundstein für eine Ideologie, was immer sehr schwierig sein kann. Es gibt auch skeptische Menschen, die uns kritisieren. Sie werfen uns vor, die Religion anders darzustellen. Wir ändern nichts an der Religion, sondern vertreten nur die Meinung, dass z.B. das Beten, Fasten, Kopftuchtragen Rituale sind. Wenn man diese als Gottesdienst betrachtet und aufzwingt, dann versuchen die Menschen sich dagegen zu wehren, was aber der Islam sowieso nicht vorschreibt.

Kann sich die Religion vom Opium befreien?
Ich denke, dass Marx‘ Definition der Religion die Beste von allen ist. Er beschreibt einerseits wie die Religion in den Händen von Herrschern zum Opium werden kann, andererseits geht es um das Gewissen. Wie die Religion das Herz der Herzlosen und wie es für die Unterdrückten zu einem Geschrei werden kann. Die marxistische Ideologie, welche bereinigt ist von der Religion, gibt es eigentlich auch im Grund der Religionen. Seit die Religionen in die Schlösser eintraten, sind sie keine richtigen mehr.

Was denken Sie über die Islamophobie im Westen?
In der westlichen Gesellschaft gibt es nicht nur Bedenken gegen den Islam, sondern auch gegen Asiaten oder dunkelhäutige Menschen. Es gibt einfach ein Misstrauen gegen die, die nicht zu ihnen gehören. Aber ich denke die Verursacher*innen dieser Meinung liegen bei beiden Seiten. Viele Türk*innen, Kurd*innen oder Araber*innen beschreiben den Islam so, dass eine Phobie entsteht. Ich habe hier viele Menschen gesehen, die aus irgendeinem abgelegenen Dorf in Anatolien kommen. Diese Leute verfügen über ein sehr zurückgebliebenes Wissen des Islam. Sie versuchen nach einer Weile sich auszudrücken, aber dies führt zu einer Ghettoisierung und sie kommen da nicht mehr raus, was vielen Europäer*innen Angst macht. Sie können auch mit der Zeit noch traditioneller und konservativer werden. Sie halten an der abergläubischen Seite der Religion fest, damit sie in der modernen Gesellschaft nicht verloren gehen. Die Themen, über die wir in der Türkei diskutieren, um sie zu ändern, sind hier versteinert. Die Menschen, die eine islamophobe Einstellung haben, haben auch unnötige Vorurteile, die zur Meinung führen, dass Ausländer*innen barbarisch oder zu nichts nutze seien.


Wer sind die Antikapitalistischen Muslim*innen?

Vor fünf Jahren nahm diese Gruppe, bestehend aus ca. 25 Personen, welche die Bücher von Ihsan Eliacik gelesen hatte, Kontakt mit dem Schriftsteller auf. Einige Zeit lang gab es regelmässige Treffen und Diskussionen. Sie betonten in diesen Diskussionen den sozialen Teil des Islam. Diese Gruppe hat keine Führer*innen oder Chef*innen, sie hat Arbeitsgruppen, welche sich gegenseitig über die Entscheidungen und Diskussionen informieren. Es gibt Vorsprecher*innen, die alle 6 Monate der Reihe nach an die Reihe kommen. Mit einer ungewöhnlichen Aktion protestierte die Gruppe der Antikapitalistischen Muslime gegen die Polizeigewalt bei den Gezi-Protesten. Sie führten das traditionelle Fastenbrechen während des Ramadans, das normalerweise von der politischen Elite luxuriös inszeniert wird, als Protest mit ganz vielen Menschen auf der bekanntesten Strasse in Istanbul auf dem Boden und auf Zeitungen durch. Vorher beteiligten sie sich auch jeweils an den 1. Mai-Demos.

Das Gespräch wurde anlässlich eines Vortrags im Alevitischen Kulturzentrum Regio in Basel, am 8. Dezember 2013, geführt. Übersetzung aus dem Türkischen: Çağdaş Akkaya.

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