19. Mai 2022 K. und Sourivanh Thalong

Tür aus der Ungewissheit, meist verschlossen

Foto: Emilio Nasser / Instagram: @emiiinasser

In vielen Kantonen fehlt der politische Wille, die prekäre Situation von Sans-Papiers zu verbessern. Profitieren würden aber nicht nur die Betroffenen, sondern auch die Allgemeinheit.

Noch eineinhalb Jahre muss K. warten, bis er wieder ein Härtefallgesuch einreichen kann. Würde ihm Ende 2023 endlich die Aufenthaltsbewilligung ausgestellt werden, hätte er bereits einen Plan, wie es weitergeht. «Ich habe eine Arbeitszusicherung erhalten», sagt K. hoffnungsvoll und zieht die Bestätigung aus seinem Dossier – das Dossier des Härtefallgesuchs, das vor drei Jahren abgelehnt wurde. Es enthält Dutzende Referenzschreiben, die aufzeigen, dass er ein Leben in der Schweiz als aktiver Teil der Schweizer Gesellschaft geführt hat. Im Jahr 2023 wird er 20 Jahre lang Teil dieser Gesellschaft gewesen sein, 20 Jahre ohne geregelten Aufenthaltsstatus.


Einige Passagen im Artikel müssten in der Zwischenzeit umgeschrieben werden, weil K.s Situation sich dramatisch verändert hat: Vollkommen unverständlicher- und ungerechterweise wurde K., der seit 19 Jahren in der Schweiz lebt, der hierher und zu uns gehört, am 17. Mai 2022 ausgeschafft. Wir sind schockiert, traurig und wütend.


Die Anzahl der in der Schweiz wohnhaften Sans-Papiers bewegt sich je nach Quelle zwischen 80‘000 und 300’000. Alleine im Kanton Zürich leben bis zu 24‘900 gemäss dem Bericht «Sans-Papiers im Kanton Zürich»1 aus dem Jahr 2020 (erstellt im Auftrag des Amtes für Wirtschaft und Arbeit und des Migrationsamtes Kanton Zürich). Diese Menschen leben mitten unter uns, bestreiten ihren Lebensunterhalt selbst. Gleichzeitig sind sie aber in einem hohen Masse Ausbeutung ausgesetzt, ohne dass sie sich dagegen zur Wehr setzen können. Ein Behördengang bedeutet nämlich: Ihr irregulärer Status könnte auffliegen – ihr Dasein wäre bedroht.

Unterschieden wird zwischen primären Sans-Papiers, Sans-Papiers mit vorheriger Aufenthaltsbewilligung – sogenannten Overstayer – und Sans-Papiers aus dem Asylbereich. Primäre Sans-Papiers waren nie im Besitz einer Aufenthaltsbewilligung und sind beispielsweise Personen, die nach Ablauf ihres Touristenvisums nicht ausgereist sind. Unter die zweite Kategorie fallen Menschen, welche nach Ablauf eines regulären Aufenthalts im Land geblieben sind. Personen, welche in diese zwei Kategorien fallen, sind dem Ausländer- und Integrationsgesetz (AIG) unterstellt und ihr Aufenthalt in der Schweiz ist den Behörden nicht bekannt. Sans-Papiers aus dem Asylbereich sind hingegen dem Asylgesetz (AsylG) unterstellt. Bei Letzteren handelt es sich um Menschen, die sich nach einem abgelehnten Asylantrag weiterhin in der Schweiz aufhalten. In den meisten Fällen leben sie in Rückkehrzentren und ihre Existenz ist – im Unterschied zum ungeregelten Aufenthalt von primären Sans-Papiers und Overstayer – den Behörden bekannt.

Härtefallbestimmungen finden sich in beiden Gesetzen, wobei es Unterschiede bezüglich der Kriterien gibt. So wird zum Beispiel der Situation Rechnung getragen, dass weggewiesene Asylsuchende ein Arbeitsverbot haben. Zusätzlich zur beruflichen Integration sind u. a. die Aufenthaltsdauer, die soziale Integration, der Leumund, Sprachkenntnisse und die Unzumutbarkeit einer Rückführung ausschlaggebend bei der Beurteilung eines Härtefalls.


«Ich bin seit fast 20 Jahren in der Schweiz. Warum wird das nicht berücksichtigt?»


K. fällt unter die Kategorie der Sans-Papiers aus dem Asylbereich. Seit 2003 hält er sich in der Schweiz auf, ein beträchtlicher Teil davon auch in Haft aufgrund seines illegalen Aufenthaltsstatus. Vor drei Jahren reichte er schliesslich mithilfe der Sans-Papiers Anlaufstelle Zürich (SPAZ) zum ersten Mal ein Härtefallgesuch ein. Beratungsstellen wie die SPAZ helfen Sans-Papiers unter anderem, die nötigen Dokumente für die Gesuchstellung zu sammeln. Vorher schätzen sie aber auch ab, ob die Kriterien erfüllt sind und ob sich ein Gesuch überhaupt lohnt. Denn Sans-Papiers riskieren mit einem Härtefallgesuch gleichzeitig, dass bei einem negativen Entscheid ihr illegalisierter Status zu einem Landesverweis führt. Gesuchstellende laufen Gefahr, ihre Existenz in der Schweiz zu verlieren.

Dass die Handhabung von Härtefallgesuchen auch unter der aktuellen Gesetzgebung verbessert werden könnte, hat beispielsweise das Pilotprojekt «Opération Papyrus» aufgezeigt, das von 2017 bis 2018 im Kanton Genf durchgeführt wurde. Dabei handelte es sich nicht um eine kollektive Regularisierung von Sans-Papiers – also eine allgemeine Überführung von Menschen mit einem irregulären in einen legalen Aufenthaltsstatus. Vielmehr war es ein Projekt, welches die Zugänglichkeit zum Härtefallprozess für Betroffene – konkret für primäre Sans-Papiers – verbesserte und gleichzeitig Begleitmassnahmen gegen ausbeuterische Arbeitsverhältnisse einführte. In enger Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Vereinigungen und Gewerkschaften wurde von den Genfer Behörden ein transparenter Regularisierungsprozess geschaffen, der zudem die existentiellen Folgen eines allfälligen Negativentscheids berücksichtigte: Gesuche, welche den objektiven Kriterien nicht genügten, gelangten gar nicht erst an die Behörden. Die grosse Mehrheit, welche durch das Projekt einen geregelten Aufenthaltsstatus erhielt, ging gemäss einer begleitenden Studie ein halbes Jahr danach einer geregelten Arbeit nach. Durch die Regularisierungen erhöhten sich nachweislich die Einnahmen der Sozialversicherungen und schliesslich auch die Steuereinnahmen.

Unter «Opération Papyrus» konnte der Status von insgesamt 2‘390 primären Sans-Papiers regularisiert werden. Zum Vergleich: Im Kanton Zürich, wo schätzungsweise doppelt so viele Sans-Papiers leben wie im Kanton Genf, wurden von 2017 bis 2020 gerade einmal zwölf Gesuche von primären Sans-Papiers gutgeheissen. Gemäss dem Bericht «Sans-Papiers im Kanton Zürich» erfüllen im Kanton jedoch bis zu 3‘700 Personen ohne geregelten Aufenthaltsstatus zumindest die zeitlichen Anforderungen zur Anerkennung eines Härtefalls.

In einer Stellungnahme auf ein Postulat der Zürcher Kantonsrätin Silvia Rigoni (Grüne) im Dezember 2020 sah der Regierungsrat keinen Handlungsbedarf bei der Verbesserung des Ablaufs von Härtefallgesuchen von Sans-Papiers. So überprüfe das Migrationsamt zum Beispiel seit 2017 Dossiers von weggewiesenen Asylsuchenden, die sich mindestens fünf Jahre seit der Einreichung ihres Asylgesuchs in der Schweiz aufhalten, von sich aus auf die Erfüllung der Härtefallkriterien. Dem Kanton Zürich ist immerhin anzurechnen, dass er mit dieser Praxis – auch wenn sie nur Sans-Papiers aus dem Asylbereich, nicht aber primäre Sans-Papiers und Overstayer betrifft – sowie mit dem Einbezug einer verwaltungsunabhängigen Härtefallkommission weiter geht als andere Kantone. Beim Vergleich mit den Kantonen Genf und Waadt, die schon vor dem Genfer Projekt «Opération Papyrus» mit Abstand die meisten Regularisierungen primärer Sans-Papiers hervorbrachten (im Jahr 2016 waren es 318 bzw. 44 genehmigte Gesuche), stellt sich trotzdem die Frage, wieso in Zürich die Zahl der gutgeheissenen Härtefallgesuche dieser Personengruppe so markant viel tiefer ausfällt.

Die Bundesgesetze gewähren den Kantonen relativ viel Spielraum bei der Anwendung der Härtefallkriterien. Dies führt dazu, dass die Anforderungen in manchen Kantonen sehr restriktiv interpretiert werden. Vor dem Hintergrund dieser faktischen Ungleichbehandlung von Sans- Papiers und unter Berücksichtigung der Grundrechte empfiehlt die Eidgenössische Kommission für Migrationsfragen EKM explizit eine «grosszügige Auslegung der gesetzlichen Bestimmungen, insbesondere bei der Anwendung der Kriterien […]». Die Regularisierung gut integrierter Sans-Papiers liege sowohl im privaten als auch im öffentlichen Interesse.2

K.s Härtefallgesuch wurde 2018 mit der folgenden Begründung abgelehnt: K. sei in den vorherigen fünf Jahren zweimal untergetaucht. Das Asylgesetz sieht vor, dass Gesuchstellende sich seit mindestens fünf Jahren in der Schweiz aufhalten und der Aufenthaltsort den Behörden immer bekannt war. In der Praxis fängt die Fünfjahresfrist nach einem Untertauchen wieder von vorne an. Es stellt sich nun die Frage, ob dieser Gesetzesabschnitt bzw. seine Anwendung in der Praxis nicht überdacht werden müsste. Sollte das Migrationsamt nicht eine Abwägung vornehmen und im Einzelfall andere Kriterien mehr gewichten können? «Ich bin seit bald 20 Jahren in der Schweiz. Wieso wird das nicht berücksichtigt?», fragt K.

Diese Frage ist umso gerechtfertigter vor dem Hintergrund, dass das Untertauchen nichts mit mysteriösen Aktivitäten oder einem romantischen Wunsch nach Zivilisationsentzug zu tun hat. Der Grund für K.s Untertauchen hatte schlichtweg mit den unmenschlichen Lebensbedingungen zu tun: «Ich habe es im Rückkehrzentrum nicht mehr ausgehalten.» Das enge Zusammenleben – über Monate oder Jahre und zum Teil ohne Tageslicht – führt oftmals zu Reibereien unter den Bewohnenden der Zentren. Es sind prekäre Umstände, unter denen abgewiesene Asylsuchende oft über eine längere Zeit leben. Dass sie den Wunsch haben, die Wohnverhältnisse zu ändern – sollte sich eine Gelegenheit anbieten –, ist nur allzu verständlich. So kam K. zeitweise bei Freunden und Bekannten unter, wenn er es in den Zentren nicht mehr aushielt. Abgesehen von den widrigen Bedingungen gelten je nach Zentrum strenge Anwesenheitskontrollen: Bis zu zweimal pro Tag müssen Bewohnende im Rückkehrzentrum ihre Unterschrift abgeben, damit sie nicht als untergetaucht gelten.

Seit dreieinhalb Jahren haben sich die Lebensbedingungen von K. verbessert. Seither ist er nicht mehr untergetaucht. Er teilt sich sein Zimmer im Rückkehrzentrum derzeit mit einer weiteren Person. Er vernimmt immer wieder mal, wie Härtefallgesuche von Menschen in seinem Umfeld angenommen werden; wie andere Bewohnende in andere Gemeinden umziehen können, wo die Bedingungen weniger prekär sind. «Es wird besser», fasst K. zusammen und meint damit die Situation der Sans-Papiers, wie er sie momentan wahrnimmt. Diese Wahrnehmung projiziert er auf seine eigene Lage und aus der aufkeimenden Hoffnung wächst der Wille, für die eigene Regularisierung zu kämpfen.

K. fragt sich, ob es nicht doch eine Möglichkeit gäbe, den Prozess für ihn zu beschleunigen; ob die Behörden denn nicht Spielraum hätten. Immerhin ist er nun seit 19 Jahren in der Schweiz, sorgt für sich selber, ist aktiv in gemeinschaftlichen Vereinen und hätte einen Job in Aussicht. Während K. seine nachvollziehbaren Argumente ausführt, liegt das sorgfältig geordnete Dossier mit den Referenzschreiben und Bestätigungen vor ihm. Zuoberst der Brief des Migrationsamtes, in dem steht, dass er erst Ende 2023 wieder ein Härtefallgesuch stellen kann. Die Zukunftsperspektiven – fürs Erste wieder ins Wartezimmer zurückgedrängt.

Eine Gefahr während dieser anderthalbjährigen Wartezeit besteht nach wie vor: Was, wenn K. in eine Polizeikontrolle gerät, wenn er in Ausschaffungshaft kommt, ausgeschafft wird? Diese Situation könnte mit der Einführung der Züri City Card zumindest für in der Stadt Zürich wohnhafte Sans-Papiers schon bald verbessert werden. Da die Züri City Card allen Bewohner:innen der Stadt Zürich zugänglich wäre (auch Sans-Papiers), liesse der Ausweis bei einer Ausweiskontrolle keine Rückschlüsse auf den Aufenthaltsstatus der kontrollierten Person zu. Sans- Papiers könnten sich in verschiedenen Situationen ausweisen, ohne eine Ausschaffung befürchten zu müssen.

Wie schon bei «Opération Papyrus» oder der SPAZ sind auch bei der Züri City Card zivilgesellschaftliche Institutionen massgeblich an der Verbesserung der Situation von Sans-Papiers beteiligt. Die prekären Lebensumstände eines Teils unserer Gesellschaft zu verbessern – denn Sans-Papiers sind Teil unserer Gesellschaft, was beispielsweise auch der Stadtrat von Zürich anerkennt –, müsste auch die Aufgabe der politischen Institutionen sein. Wie das Beispiel in Genf gezeigt hat, können auch durch behördliche Initiativen mehr Menschen in einen geregelten Status überführt werden, ohne dass dafür Gesetze angepasst werden müssen. Offensichtlich fehlt aber vielen Kantonen wie Zürich der politische Wille, die Situation von Sans- Papiers wesentlich und nachhaltig zu verbessern. Dabei würden nicht nur die Betroffenen profitieren, auch die Allgemeinheit würde gewinnen.

Wenn K. über seine Situation spricht, schwankt er zwischen Hoffnung und Frust: Hoffnung auf mehr Sicherheit, auf einen baldigen geregelten Status, auf einen Job – Frust wegen der behördlichen Entscheide, die seiner Situation nicht gerecht werden; wegen der ständigen Gefahr, ausgeschafft zu werden. Die Ungewissheit, die Konstante in K.s Leben, ist zermürbend. Wenn er denn wenigstens die Zusicherung hätte, dass er in eineinhalb Jahren die Aufenthaltsbewilligung tatsächlich bekäme; das Warten wäre weniger zehrend. Auf die Frage, worauf er sich freue, wenn sein Härtefallgesuch angenommen wird, antwortet K.: «Ich freue mich, wieder einen Plan im Leben haben zu können.»

Die Autonome Schule entstand vor 13 Jahren als Reaktion auf die restriktive Praxis des Zürcher Migrationsamtes. Zum einen hatte sich die Härtefallkommission aufgelöst, zum anderen war 2008 das verschärfte neue Asylgesetz in Kraft getreten, demgemäss abgewiesene Asylsuchende nur noch Nothilfe erhalten. Sans-Papiers hatten damals so gut wie keine Chance auf eine Härtefall-Bewilligung. Von Seiten der Behörden hiess es, sie seien zu wenig integriert. Aus Protest besetzten Sans-Papiers und Solidarische 2008 die Predigerkirche in der Altstadt. Die Kirchenbesetzung wurde beendet, nachdem der Sicherheitsdirektor Hans Hollenstein versprochen hatte, die Härtefallkommission wieder einzusetzen. So nahm die Autonome Schule in Zürich ihren Anfang.


1 Von Ecoplan und KEK Beratung
2 Gemäss dem Bericht «Sans-Papiers in der Schweiz – Empfehlungen der Eidgenössischen Kommission für Migrationsfragen EKM», 2011

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