26. Mai 2017 Judith Keller

Über den Versuch wach zu sein

Fotodokumentation Alltag in der ASZ von Milad Ahmadvand und Milad Perego

Ein bisschen den Flüchtlingen helfen gegen das schlechte Gewissen? Nein. Frewilligenarbeit an der ASZ weckt auf, beunruhigt, verunsichert: Judith Keller über ihre Erlebnisse mit einer senegalesischen Freundin.

Ich wurde einmal gefragt, ob ich an der ASZ einen Deutschkurs moderiere, um mein schlechtes Gewissen zu beruhigen. Ich weiss nicht mehr, was ich geantwortet habe, aber wenn ich jetzt darüber nach­denke, fällt mir auf: Das Gegenteil ist der Fall. Nichts in mir beruhigt sich an der ASZ, sondern alles wird geweckt. Daraus entsteht eine Wachheit, vor der ich mich manchmal fürchte, weil ich erst dann merke, wie wenig ich verstehe und wie wenig ich weiss, wenn ich einmal wach bin. Alles ist anders, als ich dachte, und es wird dann Zeit, meine ganze alte Schweiz, das Boot, in welchem ich mich orientieren konnte, über Bord zu werfen. Aber über welches Bord, wenn die Schweiz ja selbst das Boot ist? Und wenn man auch die ganze Schweiz ausleerte - wohin, wohin?


Eine Wachheit, vor der ich mich manchmal fürchte, weil ich erst dann merke, wie wenig ich verstehe und wie wenig ich weiss, wenn ich einmal wach bin.


Plötzlich, an einem Mittwochnachmittag, sitze ich neben A., einer Freundin aus Se­negal, die bereits viele Jahre an der ASZ ist. Ich kenne sie mittlerweile schon über drei Jahre und immer, wenn ich sie sehe, fällt mir ihre Ruhe und Herzlichkeit auf und wie ich und irgendwie auch alle an­deren, besonders die Schweiz, in ihrer Nähe automatisch zu ihren Kindern wer­den. Die Schweiz ist ihr rätselhaftestes Kind und dasjenige, das ihr am meisten Schmerzen zufügt. Dennoch versucht sie immer, es zu verstehen und sich so zu verhalten, dass die Schweiz, ihr Kind, sie versteht. Aber es handelt sich um ein Kind, das schwer von Begriff ist, es fremdelt ununterbrochen, und das befremdet wie­derum auch A., diese Freundin. Noch nie habe ich sie so gesehen wie an jenem Tag Ende Januar, als sie gerade erfahren hatte, dass sie nun täglich zwei Mal in ihrer NUK unterschreiben muss. Wir sitzen im Frauenraum auf einem grünen Ledersofa, es ist schon dunkel geworden, durch die Tür hören wir die Geräusche aus dem Aufenthaltsraum. Sie sitzt leicht abge­wandt von mir und versucht, etwas Un­sichtbares zu schlucken.

Sie fasst sich an den Hals und sagt, sie fühle sich, als ob sie ersticke, jeder ein­zelne Schritt von der Bushaltestelle zur NUK sei wie ein Schritt auf Scherben. Je mange, je marche, mais je ne vis plus. Ils m'ont d6truite, sagt sie jetzt. Ab morgen wird sie jeden Tag um 6 Uhr aufstehen müssen, um von der Wohnung der Freun­din, bei der sie wohnt, nach Adliswil zu fahren. Ich sage ihr, das sei alles schreck­lich, unverständlich, idiotisch, absurd, aber sie dürfe sich nicht kaputt machen lassen, sie dürfe nicht aufgeben, sie müs­se weiterleben; dass sie kaputt gehe, das sei ja genau, was sie wollten, sie, das Zürcher Migrationsamt, Mario Fehr, die SVP, die europäische Flüchtlingspolitik und auch einfach die Mehrheit der Men­schen, die darüber entscheiden können, aber diesen allen dürfe sie nicht den Ge­fallen tun, ihren Verstand zu verlieren. Sie starrt vor sich hin, als hätte sie mich nicht gehört. Das verstehe ich gut, denn auch ich habe mich nicht richtig gehört, habe mir selbst nicht richtig geglaubt, obwohl ich glaube, was ich sagte.


Du darfst dich nicht kaputt machen lassen, wiederhole ich. Voilà, ils ont déjà réussi, ils m'ont cassée, sagt sie.


Du darfst dich nicht kaputt machen lassen, wiederhole ich. Voilà, ils ont déjà réussi, ils m'ont cassée, sagt sie. Ich wiederhole, was ich ihr schon gesagt habe, dass sie nicht aufgeben dürfe, es gebe immer Hoffnung, und sie dürfe doch nicht die anderen darüber bestimmen lassen, ob sie lebe oder nicht, und während meine Stimme äusserlich plötzlich eindringlich wird und wie aus dem nichts diesen fast strengen, autoritären Ton annimmt, mit dem man jemandem sagt, er müsse sich zusammenreissen, merke ich, wie überheblich ich gerade bin, wie leicht es für mich ist, ihr Mut zuzusprechen, wo ich doch selber keinen brauche. Es wird mir wieder klar, wie wenig ich mir ihr Leben vorstellen kann. In einer Stunde schon werde ich zu Hause sein in meiner ruhigen Wohnung. Vielleicht werde ich ein war­mes Bad nehmen, vielleicht noch einen Film schauen, dann ins Bett gehen und lange und ruhig schlafen. Ich, Studentin und Langschläferin, die ich es nie schaffe, früh aufzustehen, werde mir vornehmen, um 6 Uhr aufzustehen, um zu wissen, wie früh das ist, um 6 Uhr aufzustehen.


Sie wird die morgenkalten Schweizer Wiesen sehen, während sie zur NUK fährt, das Gras von unsichtbaren Kämmen gekämmt, die Bäume schattenlos und bleich in der kühlen Morgenluft.


Aber sogar wenn ich es schaffen sollte, um 6 Uhr aufzustehen, wie werde ich je das Gefühl nachempfinden können, das A. haben muss, wenn sie um 6 Uhr aufstehen muss, nicht um irgendwohin arbeiten zu gehen, sondern gerade, um nirgendwo ar­beiten zu dürfen; um eine sinnlose Reise anzutreten zu einer NUK? Nie werde ich die langen Stunden fühlen können, die dann vor ihr liegen, der leere Tag mit seiner feuchten Winterluft, der sich über die graue Zürcher Agglomeration spannt. Wohin gehen? Sie wird die morgenkalten Schweizer Wiesen sehen, während sie zur NUK fährt, das Gras von unsichtbaren Kämmen gekämmt, die Bäume schatten­los und bleich in der kühlen Morgenluft, ein paar Vögel könnten darin sitzen und am Bus werden die üblichen Bestandteile der Schweizer Dörfer vorbeiziehen: eine Migros, ein Coop, eine Bäckerei, eine Tank­stelle. Während sie bereits drei Stunden wach sein wird und den Weg zur NUK gegangen sein wird, werde ich langsam aufgestanden sein. Ich habe mich damals tatsächlich bemüht, um 6 Uhr aufzustehen, aber es ist mir nicht gelungen. Ein Beweis dafür, wie fast unmöglich es mir ist, wach zu bleiben. Und wie umso wichtiger es ist, es dennoch zu versuchen.

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