3. Dezember 2018 Nena Morf und Lukas Tobler

Über die Grenzen der Welt

Sreten Ugričić ist Autor und Philosoph. Er leitete die Serbische Nationalbibliothek, bis er aus politischen Gründen das Land verlassen musste. Heute lebt er in Zürich, wo er einen Deutschkurs an der Autonomen Schule Zürich besuchte. Im Interview erzählt der ehemalige Bibliothekar, was er hier gelernt hat und warum es besser ist, eine Utopie zu verfolgen, statt einer vermeintlichen Realität zu erliegen.

«Er lebt in Serbien. Das Leben ist Ausland. Nur die Vorstellungskraft ist Heimat.» Mit diesen Worten schliessen die biographischen Angaben in den meisten der neun Bücher von Sreten Ugričić. Der erste der drei Sätze ist heute nicht mehr wahr. Sreten unterzeichnete 2012 einen Aufruf des Serbischen Schriftsteller-Forums. Es ging dabei um die freie Meinungsäusserung eines als Terroristen diffamierten montenegrinischen Schriftstellers. Daraufhin verkündete der serbische Innenminister, Sreten Ugričić könne die freie Meinungsäusserung und die Menschenrechte verteidigen, aber nur vom Gefängnis aus. Sreten Ugričić wurde entlassen und verliess Serbien, wo er nach wie vor als Terrorist bezeichnet wird, in Richtung Schweiz. Seit 2016 arbeitet er nun an der Universität Luzern an seiner Dissertation.

Die Schweiz als Falle: «Ist die Utopie zugleich eine perfekte Anti-Utopie?»

Sreten Ugričić beschäftigt sich intensiv mit alternativen politischen und gesellschaftlichen Denkweisen. In der Schweiz, die er als ehemaliger «Writer in Residence» schon länger kennt, sieht er das kapitalistische System in «seiner höchsten Form». Gerade hier habe die Imagination einen schweren Stand. In seinem Text «Die beste aller Welten?», über die Stadt Zug fragt der Schriftsteller deshalb: «Ist die Utopie zugleich eine perfekte Anti-Utopie?». So hält Sreten Ugričić etwa unsere vermeintliche Neutralität für gefährlich. Weshalb? Und wie nimmt der ehemalige Kursteilnehmer die ASZ wahr, die den Grundsatz hat, dass gerade Bildung nicht neutral sein kann? Im Interview mit der Papierlosen Zeitung denkt er über die Grenzen der Realität nach – und macht Lust, sie zu überschreiten.

Du hast zwei Jahre lang an der ASZ Deutschkurse besucht – wie hast du die Schule und diese Zeit erlebt?
Die ASZ ist definitiv sehr viel mehr als einfach eine Schule, an der man kostenlos Deutsch lernen kann. In den Kursen kommen Menschen aus allen Himmelsrichtungen zusammen, die nirgendwo so richtig hingehören, die entwurzelt wurden. Mit diesen Menschen fühle ich mich verbunden. Wir sind alle Outsider und es ist gut, ein Outsider unter anderen zu sein – auch wenn das zuweilen weniger romantisch ist, als es klingt.

Was hast du an der ASZ gelernt?
Das Wissen, das ich mir an der ASZ angeeignet habe, ist sehr vielfältig – ich habe während der Deutschkurse auch viel über Menschen und Beziehungen gelernt. Die Zeit an der ASZ war für mich eine Inspirationsquelle. Klar: Teilweise herrschte ein Durcheinander, und ich brauchte Geduld – mit mir selbst und den anderen. Noch kann ich kein Deutsch, aber zurzeit schreibe ich meine Dissertation auf Serbisch und im Alltag spreche ich Englisch. Weil ich weiss, dass ich ganz in die deutsche Sprache eintauchen müsste, um sie zu lernen, genau das aber mein Schreiben (auf Serbisch) blockiert, habe ich jetzt erst einmal mit dem Deutschkurs an der ASZ aufgehört.

Die ASZ vertritt etwa die Überzeugung, dass Bildung niemals neutral sein kann. Kannst du dich mit dieser Denkweise identifizieren?
Ja, ganz klar: Gesetze, Institutionen, Bildung, Sprache, Internet – sie alle scheinen neutral, transparent und objektiv zu sein. Das ist gefährlich. Wer meint, etwas sei neutral, erkennt die Illusion nicht, welche die Interessen der dominanten Klasse verbirgt – und erliegt ihr. Einer Illusion zu erliegen bedeutet, an die Grenzen einer vorgegebenen Realität zu glauben. Aber die so genannte Realität ist nur die Falle der Illusion, gemäss der es keine Illusion gibt. Diese Falle schnappt nicht nur in der Schweiz zu, aber hier ist es offensichtlicher als anderswo: Fast niemand kann sich hier in diesem vermeintlich vollkommenen System vorstellen, dass es ausserhalb von dem, was als Realität bezeichnet wird, noch Alternativen gibt. Aber es sollte immer möglich sein, sich etwas anderes vorzustellen.

Siehst du die ASZ als Beispiel für ein Projekt, das solche Alternativen vorstellt? Oder unterliegt sie der Schweizer Falle?
Die Ziele der Autonomen Schule Zürich, soweit ich sie überhaupt überblicken kann, sind utopisch, also nicht umsetzbar – nicht in diesem Land, nicht in dieser Zeit, nicht in dieser Gesellschaft. Aber genau das ist wertvoll. Warum? Die Utopie versucht die Falle der Illusion – die vermeintlich unveränderliche Realität – zu überwinden. Das Ziel muss immer sein, über das vermeintlich Mögliche hinaus zu denken und zu handeln. Dazu brauchen wir mehr Vorstellungskraft. Und Mut. Allerdings besteht natürlich das Risiko, dass die ASZ die Grenzen des Systems nicht überwinden kann, sondern stattdessen das System stützt, gegen das sie kämpft. Denn sie erweckt den Eindruck: Wenn hier eine solche Schule möglich ist, dann gibt es ja scheinbar keine Einschränkung durch das System.

An der ASZ dreht sich viel um Sprache. Was kann sie dazu beitragen, die politische Realität zu verändern?
Worte sind Instrumente, welche die Grenzen der sogenannten Realität festigen. Um es mit Wittgenstein zu sagen: Die Grenzen der Sprache sind die Grenzen der Welt. Durch die Veränderung unserer Sprache verändern wir unsere Vorstellungskraft – und unsere Vorstellungskraft ist zentral, wenn wir die Welt verändern wollen. Anstatt eine unveränderbare Welt zu beschreiben, kann Sprache die erste Bedingung sein für das Entstehen einer anderen Welt.

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