12. Juni 2025 Jenny Steiner

(Über-)Leben im Camp: Isolation, Solidarität und Widerstand

In der Notunerkunft in Urdorf. Fotografie: Emilio Nasser

Notunterkünfte sind das unfreiwillige Zuhause vieler Menschen. Doch der Begriff ist trügerisch. Das politisch gewollte Nothilfe-Regime führt zu Repression und Angst, Armut und Isolation.

«Camp». Das ist eines dieser Worte, die für mich eine ganz neue Bedeutung erhielten, als ich vor gut zehn Jahren zur Autonomen Schule Zürich kam.


Wenn die Menschen an der ASZ vom «Camp» sprachen, dachten sie nicht an Zelte und Natur, sondern an Bunker und Container. Sie sind das unfreiwillige Zuhause von Menschen, die in der Schweiz keinen geregelten Aufenthaltsstatus haben.


Notunterkünfte, werden sie hier im Kanton Zürich auch genannt. Doch der Begriff ist trügerisch. Sie lindern nicht die Not derer, die in ihnen leben. Sie schaffen und verstärken die Prekarität von Menschen, die auf der Suche nach einer lebenswerten und sicheren Zukunft in die Schweiz gekommen sind. Von Menschen, die hier keine oder die falschen Papiere haben.


Macht man ihnen das Leben nur so unangenehm wie möglich, würden sie schon von selbst wieder gehen, lautet die fehlgeleitete Überzeugung, die längst nicht nur die verantwortlichen Politiker:innen vertreten.
Für die betroffenen Menschen im sogenannten «Nothilfe-System» heisst das: Leben in Isolation und in absoluter Armut – oft über Jahre, manchmal über Jahrzehnte. Die Gründe, warum die Leute ausharren, sind so vielfältig wie ihre Biografien. Camp bedeutet Schlafen in Massenschlägen, zu viele Leute auf zu wenig Raum. Camp bedeutet 5-köpfige Familien auf 20 Quadratmetern und ein Mangel an sanitären Anlagen.


Camp bedeutet auch ein Leben weit unterhalb des Existenzminimums. Im Kanton Zürich erhalten erwachsene Personen mit einem negativen Asylentscheid 10.50 Franken am Tag, Kinder je nach Alter 8 oder 5 Franken. Das muss ausreichen, für Essen, Kleider, Hygieneartikel und Handyrechnung. Dass davon nichts übrigbleibt, um mit dem ÖV in die Stadt zu fahren, ist selbstredend. Von einem Familienausflug ins Schwimmbad oder den Zoo ganz zu schweigen.


Camp bedeutet seit vielen Jahren aber auch Solidarität, Vernetzung und Widerstand.


Ein Kind der Bleiberechtsbewegung


Als Kind der Bleiberechtsbewegung ist die Autonome Schule seit ihrer ersten Stunde Teil dieses Widerstands. Dazu muss man wissen: Das Nothilfe-System, das heute für viele so alternativlos scheint, ist noch nicht einmal zwanzig Jahre alt. Seit 2008 erst werden Menschen, die einen ablehnenden Asylentscheid erhalten haben, aus der Sozialhilfe ausgeschlossen und von der Gesellschaft isoliert. Mit der von Christoph Blocher ausgearbeiteten Asylgesetzreform verschlechterten sich die Lebensbedingungen der Betroffenen damals auf einen Schlag massiv. Aus Protest besetzten Sans-Papiers und solidarische Unterstützer:innen im Dezember 2008 für mehrere Wochen die Zürcher Predigerkirche.


Aus diesem Protest entstand dann die Autonome Schule: als ein Ort der Solidarität und auch als ein Ort, wo Menschen ihre Deutschkenntnisse verbessern und so ihre Chance erhöhen können, über ein Härtefallgesuch ein Aufenthaltspapier zu bekommen. Das war damals die Idee.


Seit nunmehr 16 Jahren tragen Aktivist:innen mit und ohne Aufenthaltsbuchstaben das Projekt gemeinsam. Als Teil der Bleiberechtsbewegung vertritt die ASZ eine Position, die in einem Klima zunehmender Abschottung immer stärker an den Rand gedrängt wird. Es ist ein Klima, in dem die politischen Mehrheiten längst neue Realitäten geschafft haben.


2019 etwa hat eine grosse Asylgesetzrevision das Campsystem massiv ausgeweitet. Geflüchtete, die in die Schweiz kommen, werden seither erstmal in grossen, gefängnisartigen Bundesasylzentren untergebracht. Währenddessen wird die Festung Europa laufend hochgerüstet; Push-Backs gehören zum gewaltvollen Alltag an den EU-Aussengrenzen, bald sollen grosse «Auffanglager» dazukommen.
Die immer stärkere Abschottung zeigt sich nicht nur in den immer grösseren und gefängnisähnlicheren Camps oder der Militarisierung der Aussengrenzen. Sie reproduziert sich auch vor unseren Augen, in unserer unmittelbaren Nachbar- oder Freund:innenschaft.


Innere Grenzen


Etwa, wenn eines Tages wieder eine:r unserer Freund:innen und Mit-Aktivist:innen nicht zur Schulbüro- oder Café-Schicht erscheint und uns später die Nachricht ereilt: Ausschaffungshaft. Oder wenn die Behörden die Schraube noch einmal etwas enger drehen, die Bewegungsfreiheit der Betroffenen noch etwas stärker einschränken.


So geschehen im Herbst 2016. Viele Menschen in den Notunterkünften erhielten damals Post vom Kanton: Sie wurden «eingegrenzt», durften die Gemeinde oder den Bezirk ihres Camps nicht mehr verlassen. Strafandrohung bei Missachtung dieser «Eingrenzung»: bis zu drei Jahre Gefängnis.
Eine Zermürbungsmassnahme mit einschneidenden Folgen: Nicht nur verbot der Kanton vielen Aktivist:innen damit, an die ASZ zu kommen. Auch die kostenlosen Rechtsberatungsstellen in der Stadt Zürich wurden für sie unerreichbar. Die Prekarität im Nothilfe-Regime rührt nicht nur von Armut und Isolation. Repression und Angst sind ebenso wichtige Zutaten.


Zusammen mit einer Reihe weiterer Zwangsmassnahmen und dem Dauerdelikt des «rechtswidrigen Aufenthalts» bilden die Eingrenzungen ein gesetzlich legitimiertes Repressions-Regime aus, das auf Schikanierung und Ausgrenzung setzt. Ihr Status – abgewiesen, ergo «illegal» – dient als Vorwand und Deckmantel, den Menschen im Nothilfe-Regime ihre grundlegenden Rechte zu nehmen. Der Stempel «illegal» bringt sie im Arendtschen Sinne um ihr Recht, Rechte zu haben: das Recht auf ein menschenwürdiges Leben, auf Bewegungsfreiheit, auf eine unbeschwerte Kindheit.


Als Antwort auf diese zunehmende Repression gründeten betroffene und solidarische Personen und Organisationen 2017 in den Räumen der ASZ das Bündnis «Wo Unrecht zu Recht wird...». Die Mitglieder des Bündnisses leisten seither rechtliche Unterstützung und organisieren Aktionen und Veranstaltungen, um dem Schweigen rund um diese gewaltsame Politik entgegenzutreten. Einen wichtigen Bestandteil bilden die wöchentlichen Besuche in den Nothilfe-Camps, sowie seit einigen Jahren auch in den Zürcher Bundesasylzentren und einigen Durchgangszentren.


Die konstruierte Notlage


Diese Besuche brechen die Isolation in den Camps ein Stück weit auf und ermöglichen einen Blick in die politisch gewollte «Black-Box».
Die Arbeit des Bündnisses und der Widerstand gegen das Camp-System ist in den letzten Jahren nicht einfacher geworden. Im Gegenteil: Während es sich in den Anfängen zumindest noch so anfühlte, als könnte man Missstände publik machen und damit für Empörung sorgen, ist das heute kaum mehr so. Und während sich die zuständigen Behörden die Verantwortung für die desaströsen Bedingungen in den Camps oder für gewaltvolle Ausschaffungen gegenseitig zuschoben – von der Betreiberfirma ORS zum Kanton, vom Kanton zum SEM, und wieder zurück – scheint das heute nicht mehr nötig.


Die Isolation und gewaltsame Ausgrenzung jener, die im rassistischen Mehrheitsdiskurs als unerwünscht gelten, ist längst zur Normalität geworden.


Und mehr als das: Die Anwesenheit von Geflüchteten wird von Politiker:innen auf höchster Stufe und in der fast ganzen politischen Breite als Notlage heraufbeschworen. Nicht als Notlage der Betroffenen, nein, als Notlage für eine Schweiz, deren Konzeption sie nicht miteinschliesst. Die kontinuierliche Inszenierung und Bewirtschaftung dieser «Asyl-Notlage» schafft nicht nur Akzeptanz für immer extremere Politiken, sondern macht die Notlage selbst zum elementaren Bestandteil des Asylregimes. Zur Aufrechterhaltung der Notlage wird der tiefste Bunker und die baufälligste Baracke zu einem legitimen Wohnort für Menschen.


Diese Entwicklungen stimmen wenig optimistisch. Doch auch wenn der Widerstand und die solidarische Arbeit nicht einfacher werden – sie bleiben alternativlos. Solidarische Orte, die nach einer anderen Logik funktionieren, ebenso. Die Autonome Schule ist und war seit ihrem Beginn ein solcher Ort – und sie wird auch diesmal Teil des Widerstands sein.

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