22. Mai 2015 Khalid Ahmad

Unsichtbare Gewalt

Über die unsichtbare Gewalt einer geschlossenen Gesellschaft

Seit seiner Kindheit wurde er durch intensive, wirksame und angstmachende Erzählungen unter Druck gesetzt, bis er mit 23 Jahren heimlich und gegen den Willen seiner Familie und Regierung sein Land verliess. In der Familie und in der Moschee erzählten sie von schrecklicher Folter nach dem Tod, von der Qual im Grab, von den Henkern in der Hölle, von Feuer, Dunkelheit und Skorpionen, die gleich gross sind wie Kamele, und von lauernden siebenköpfigen Drachen.

Sein Vater sagte immer: «Mein Sohn, Gott hat das nicht so gern. Warum kommst du nicht in die Moschee? Warum betest du nicht? Warum fastest du nicht an Ramadan? Warum kleidest du dich so? Warum hast du so lange Haare? Warum trägst du nicht den richtigen Bart? Das alles passt nicht zur Scharia und zu unserer Kultur.» Darauf sagte er: «Ich glaube schon an Allah, obwohl ich an vielen Sachen im Islam zweifle. Ich bin trotzdem Muslim.»

Er konnte nicht in einem dunklen Raum schlafen, denn jedes Mal, wenn er aufwachte, fühlte er sich, als ob er schon im Grab liegen würde. Er wachte oft auf, weil er mit solcher Angst und solchen Gedanken schlief. In seinem Heimatland ging er sehr spät oder frühmorgens ins Bett und schlief bis am späten Nachmittag, wenn er nicht im Peschmerga1-Dienst oder auf der Baustelle war. Bevor ich merkte, dass er in einem dunklen Raum nicht schlafen konnte, hatte ich immer das Licht ausgeschaltet. Dann wurde ich mehrmals durch seine Schreie aufgeweckt. Er erzählte mir, er könne nicht in einem dunklen Raum schlafen.

Die erste Station seiner Flucht war eine isolierte Einzelzelle in einem Gefängnis in Finnland, wo er nicht einmal eine Zigarette rauchen konnte. Einen Monat später wurde er deportiert. Die zweite Station seiner Flucht war Hamburg. Am gleichen Tag noch kam er zu mir nach Zürich, das war die dritte Station seiner Flucht. Er stellte einen Asylantrag und wartete drei Monate. Danach wurde er festgenommen, für zwei Wochen in ein Gefängnis gebracht und wieder nach Deutschland deportiert. Seit fünf Monaten wartet er auf seine erste Befragung. Bisher wurde er nicht angehört. Er lebt nun in einem isolierten Heim in einem Dorf. Was mich sehr erschreckt und an meine eigenen Erlebnisse erinnert, ist die unsichtbare Gewalt einer geschlossenen Gesellschaft, die neben der sichtbaren Gewalt existiert.

Man wird nicht geschlagen, hat keine blauen Flecken im Gesicht oder auf dem Körper, erhält keine Stromschläge.
Man ist seelisch und in Gedanken gestresst und unter Druck.

Tausend unangenehme Fragen über Religion und Kultur werden gestellt. Man ist geflüchtet und viele Male in Lebensgefahr geraten, schliesslich hat man es geschafft, nach Europa zu kommen. Und hier erlebt man wieder unsichtbare Gewalt, die viele von euch auch erlebt haben.

1) Peschmerga: Die kurdischen Kämpfer_innen in Kurdistan/Irak. 

Lektoriert von Martina Läubli

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