25. Juni 2011 Maurizio Coppola

Von der politischen Produktion rechtloser Arbeitskräfte

Papierlose sind billige und rechtlose Arbeitskräfte. Ihre wichtige Rolle im Niedriglohnsektor ist kein Zufall.

Anfang Mai 2011 strahlte die Télévision Suisse Romande (TSR) die Reportage Chantiers au noir – die schwarzen Baustellen aus. Der Bericht verdeutlicht die Praktiken von Bauunternehmen, die Papierlose anstellen und sich durch Lohndruck Wettbewerbsvorteile verschaffen: Der Lohn eines illegalisierten Arbeiters auf dem Bau liegt zwei bis drei Mal tiefer als der Mindestlohn. Der Umgang mit papierlosen Arbeitern ist schonungslos, die Arbeitsund Lebensbedingungen sind menschenunwürdig.

Sie werden jeweils früh morgens an gewissen Tankstellen in Lausanne und Genf rekrutiert, leben meist zu sechst in Studios, geschlafen wird auf dem Boden. Arbeiter, die krank werden oder sich auf der Baustelle verletzen, werden umgehend weggeschickt. Die Papierlosen arbeiten auf Abruf und sind als Tagelöhner angestellt – alles richtet sich ausschliesslich nach den Bedürfnissen der Unternehmen. 
Schwarz angestellt, ohne sozialen Schutz sind die illegalisierten Arbeiter_innen die neuen Verdammten dieser Erde des 21. Jahrhunderts – und sie werden immer mehr gefragt sein, vor allem im Niedriglohnsektor der schweizerischen Wirtschaft (Bau, Hotellerie, Gastronomie, Reinigung). 

Das migrationspolitische System, das zu einer solchen sozialen Realität auf dem schweizerischen Arbeitsmarkt führt, ist komplex. Es geht über das einfache Bild einer «Festung Europa» und der bedingungslosen Personenfreizügigkeit innerhalb des Schengen-Raumes hinaus. Tatsächlich werden die Migrationsströme differenzierter verwaltet, und zwar ganz nach den Bedürfnissen der Arbeitsmärkte. Diese sind segmentiert, d.h. je nach Tätigkeit und Qualifikationsansprüche werden unterschiedliche Arbeitskräfte benötigt. Dazu zählen auch billige und rechtlose Arbeitskräfte. 

Seit dem 1. Juni 2002 gilt der freie Personenverkehr zwischen der Schweiz und den Ländern der Europäischen Union (EU). Zu Beginn galten noch Kontingente, danach wurden sie schrittweise aufgehoben. Am 1. Juni 2004 wurden zudem die so genannten flankierenden Massnahmen eingeführt. Sie sollten verhindern, dass Löhne und Arbeitsbedingungen in der Schweiz auf Grund der Öffnung des Schweizer Arbeitsmarktes unter Druck geraten. 

Jährlich publiziert das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) Berichte über die Folgen der Einführung der Personenfreizügigkeit und der flankierenden Massnahmen. Am 3. Mai 2011 erschien der Bericht über die Umsetzung der flankierenden Massnahmen und über die Wirkung der Schutzmechanismen für die Arbeiter_innen (Gesamtarbeitsverträge, Mindestlöhne etc.). Die Resultate sind ernüchternd: Bei 38% aller kontrollierten Personen wurde ein Verstoss gegen die Lohnbestimmungen festgestellt; im Bauhauptgewerbe wurden bei den Temporärarbeitenden sogar in 47% der kontrollierten Fälle missbräuchliche Lohnunterbietung aufgedeckt; die Zahl der in der Schweiz selbständig erwerbenden Menschen aus dem Ausland hat sich zwischen 2005 und 2010 mehr als verdreifacht (von ca. 5000 auf über 15‘000), wobei es sich bei über einem Viertel der Personen um eine Scheinselbständigkeit handelt, d.h. die Arbeitgeber_innen in der Schweiz zahlen keine Sozialversicherungsbeiträge. Kurzum: Die Schutzbestimmungen greifen nicht. 

Was haben nun das Bild, das durch den Film chantiers au noir vermittelt wird, und 
diese Zahlen miteinander zu tun? Eine Aussage eines papierlosen, auf den Westschweizer Baustellen arbeitenden Kosovaren bringt es auf den Punkt: «Der Lohn ist nicht so wichtig, Hauptsache, ich habe Arbeit. Unter solchen Bedingungen in der Schweiz zu leben, zugegeben, das ist schwierig. Aber dort unten im Kosovo ist es noch viel schlimmer.»

Jährlich reisen nach Europa tausende von Menschen, die aus einem Land stammen, das nicht zum Schengen-Raum gehört. Obwohl die Behörden von der Existenz dieser Menschen wissen, werden sie nicht sogleich zurückgeschickt. Sie werden in Sektoren und Branchen des Arbeitsmarktes eingesetzt, in denen die übelsten Arbeits- und Lohnbedingungen herrschen. Diese Sektoren sind dadurch charakterisiert, dass sie notwendig sind für die Bedürfnisse der Gesellschaft, ihre Tätigkeit jedoch eine sehr geringe Wertschöpfung generiert und die Unternehmen, um ihre Profite zu garantieren, Schwarzarbeiter_innen anstellen und miserable Löhne auszahlen. Gerade in der Bauwirtschaft herrschen, wie die Reportage eindrücklich zeigt, unlautere Regeln. Wer in der «freien Marktwirtschaft» überleben will, greift zu kriminellen Methoden. Die Resultate der Seco-Berichte widerspiegeln also nicht zufällig aufgedeckte Missbräuche, sondern vielmehr ein politisches und wirtschaftliches System, welches rechtlose Arbeitskräfte produziert. 

Die rechtskonservative Rhetorik, wonach mit dem Ausstieg aus den Bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der EU «Schweizer Löhne und Arbeitsplätze» geschützt werden, passt nicht in dieses Bild. In dieser Perspektive geht es vielmehr darum, die schweizerischen gegen die migrantischen Lohnabhängigen gegeneinander auszuspielen. Dies ist eine historische Konstante. Anfang der 1960er Jahre wurden in der Industrie die schweizerischen Arbeiter vor die Wahl gestellt: entweder mehr Arbeitszeit oder noch mehr «Tschinggen». Ihre Wut richtete sich immer mehr gegen jene, die in ihren Augen an allem schuld waren: die Gastarbeiter.

In Stich gelassen von den Gewerkschaften, fanden sie in der 1963 gegründeten «Nationalen Aktion gegen die Überfremdung von Volk und Heimat» ihre «Heimat». Bei der Volksabstimmung im Juni 1970 stimmten dann auch 55 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder für die Schwarzenbach-Initiative. Die Parolen der rechtskonservativen Parteien vermochten also seit jeher die Arbeiter_innenschaft in der Schweiz wirksam zu spalten. 

Durch die Verteidigung von bessergestellten Arbeiter_innen gegen die von Prekarisierung Bedrohten und letzterer gegen die Papierlosen und „Illegalisierten“ wird der Hass zwischen allen Lohnabhängigen geschürt. Der solidarische Kampf der Arbeiterinnen und Arbeiter über die Grenzen der Nationalitäten hinweg, für menschenwürdige Löhne und Arbeitsbedingungen und für ein Bleiberecht für alle – das ist unsere Botschaft. 

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