7. Juli 2022 Claudia Wilopo (Text) und Emilio Nasser (Fotos)

Was wir sehen und was nicht

Wer gehört in einer Gesellschaft dazu und wer nicht? Wie Rassismus sichtbare und unsichtbare Grenzen zwischen Menschen errichtet.

Rassismus ist nicht vergangen – er ist nicht mit dem Kolonialismus oder dem Zweiten Weltkrieg verschwunden. Er findet auch nicht bloss anderswo statt, zum Beispiel in den USA oder in Südafrika, wie viele Rassismusbetroffene in der Schweiz wissen. Dieser Text soll aufzeigen, wie Migrationseinschränkungen mit Rassismus zu tun haben. Er fragt zudem, für welche Leben wir Sicherheit, Schutz und Unterstützung bieten und für welche nicht.     

Für privilegierte «Expats», Tourist:innen und Personen mit einem europäischen oder nordamerikanischen, australischen oder neuseeländischen Pass stehen fast alle Grenzen offen. Laut dem sogenannten «Henley Pass Index» können Schweizer:innen ohne Visum in 184 Länder reisen, während sich Personen aus Afghanistan nur in 26 Länder bewegen können. Um nach Europa reisen zu können, müssen sie «illegal» Grenzen überqueren. Um nach Europa zu reisen, müssen sie sich «illegal» auf den Weg machen. Diese politisch festgesetzte Grenze selektioniert, wer als «erwünscht» und «unerwünscht», «zugehörig» und «nicht-zugehörig» gilt und wer frei in die Schweiz ein- und ausreisen kann. Diese Grenzen existieren vor allem für prekär lebende Schwarze Personen und Geflüchtete of Color, ihnen wird der Zugang zu Europa versperrt.      

Die Schweiz beteiligt sich durch die finanzielle Unterstützung von Frontex nicht nur an der zunehmenden Erschwerung der legalen Einreise, sondern auch an illegalen Push-Backs der libyschen Küstenwache im Mittelmeer oder an Gewalt und Menschenrechtsverletzungen an der kroatisch-bosnischen Grenze. Migrant:innen werden gezwungen, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, um in den Schengen-Raum und in die Schweiz zu kommen. Diese Grenzziehungen kosten Migrierenden an der EU-Aussengrenze und im Mittelmeer das Leben (Alarmphone Schweiz 2020; United Against Refugee Deaths, 2019).      

Das Label «illegal» steht nicht nur für die Ablehnung eines Asylgesuchs. Es geht auch mit einem gesellschaftlichen und politischen Diskurs einher, der gewissen Personen innerhalb eines Nationalstaates systematisch die Zugehörigkeit abspricht. Sie werden als Bedrohung für die Gesellschaft und als Belastung für seine Sozialsysteme und Arbeitsmärkte gesehen. Illegalisierte Personen erleben Eingrenzungen, Polizei- und tägliche Anwesenheitskontrollen. Die behördlichen Zwangsmittel sollen abgewiesene Asylsuchende dazu bringen, das Land zu verlassen.      

Die medial und politisch immer wieder aufgefrischten Assoziationen von Geflüchteten mit Kriminalität und Terrorismus tragen dazu bei, dass Migration vor allem als «Sicherheitsproblem» betrachtet wird, das nach dieser Logik auch mit Gewalt bekämpft werden müsse. Dass dieses System tödlich ist, zeigt der Fall des Geflüchteten Mike Ben Peter. Am 28. Februar 2018 wurde er mehrere Minuten von der Polizei auf dem Bauch gedrückt festgehalten und starb daraufhin in einem Spital in Lausanne.     

Geflüchtete Personen erleben institutionellen Rassismus am eigenen Körper und müssen regelmässig Erfahrungen von polizeilicher Hinterfragung, Durchsuchung und Kontrolle machen. Mit Rassismus meinen wir die Hierarchisierung, Unterdrückung und Kategorisierung von Menschen in einer Gesellschaft, in der Weisssein die Norm darstellt, die nicht hinterfragt wird. Die Rassismuskritik von illegalisierten Personen wird von der Gesellschaft oft nicht als solche erkannt und ernstgenommen. In den letzten Jahren unterlag diese Gruppe aber immer stärkeren Einschränkungen und staatlichen Repressalien.

Die aktive Unterstützung des EU-Grenzregimes gehört zu den Mitteln, mit welchen die Schweiz Menschen kategorisch von Reichtum, Freiheiten und Möglichkeiten ausschliesst und gleichzeitig Diskriminierung, Entrechtung und Gewalt gegenüber Geflüchteten legitimiert. Die bisherige Politik der Härte und Kontrolle hat keinesfalls verhindert, dass es abgewiesene Asylsuchende in der Schweiz gibt. Viele bleiben aus Mangel an Alternativen und in der Hoffnung, dass ihr Wunsch, in der Schweiz bleiben zu können, irgendwann vielleicht doch noch in Erfüllung geht.


Le Bateau Fantôme     

Wie schon in der letzten Ausgabe und neu bezugnehmend auf einen Text von Claudia Wilopo, der komplexe Wechselbeziehungen analysiert, zeigt Emilio Nasser einen weiteren Teil des Projektes «Le Bateau Fantôme»; beide führen uns in und durch Zeiten der Unsicherheit. Das dokumentarische Projekt geht aus von der menschlichen Sehnsucht nach einem besseren Ort, indem es eine unbekannte schweizerische Legende nacherzählt: Auf dem Genfersee segelt ein Boot, das uns einen Wunsch erfüllt, falls wir Glück haben, es zu sehen. Dieser fiktive Wunsch wird zum Ausgangspunkt für ein Gespräch über die Sehnsucht nach dem, was wir als unsere Heimat betrachten.      

Die Geschichte folgt den Spuren der ASZ und wie sie die Stadt Zürich durchwandert auf der Suche nach einem permanenten (Frei)Raum und hört auf das Wissen, das durch die vernetzte Vielstimmigkeit der Schule entsteht. Dieses Projekt versucht, den Schweizer Mythos von einem wunscherfüllenden Boot, die unsichtbaren Spuren eines (Frei)Raums für illegalisierte Menschen und deren Stimmen zu vernetzen, die zusammenkommen, wo sich schweizerische und europäische Migrationspolitik kreuzen.         

Dieser Link führt zu einem kurzen Animationsfilm, der zurzeit entsteht und Teil des Projektes «Le Bateau Fantôme» ist. Der Kurzfilm nimmt das Zitat «Navigating Invisible Border Spaces» als Ausgangspunkt; es handelt sich um den Titel des Essays von Claudia Wilopo: «Navigating Invisible Border Spaces: What Rejected Asylum Seekers Lives Can Tell Us about Everyday Bordering Practices», Universität Basel.

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