6. Juni 2017 Kaveh Karimi

Willkommen im Smartphone-Asyl!

Nach der Flucht aus der Heimat folgt oft die Flucht ins Smartphone. Wie kann die doppelte Isolation der refugees durchbrochen werden?

Vielleicht ist es in der heutigen Zeit ganz normal, täglich ein paar Stunden mit dem Smartphone zu verbringen. Aber die Flucht von refugees ins Smartphone hat eine tiefere Ursache und damit eine andere Bedeutung als die blosse «Smartphonisierung» als Teil der modernen Welt und des Lebens der jungen Menschen. Man könnte dieses besondere Phänomen als «Smartphonisierung der modernen refugees» bezeichnen. Wenn es in einer Asylunterkunft keinen Internetzugang gibt, dann erfahren Sie, wie konfus die Betroffenen werden. Denn sie wollen nicht mit der nackten Realität und der illusorischen Gestalt ihrer Träume konfrontiert werden.

Man kann nicht von ungefähr fragen, warum Smartphones in der modernen Welt die innigsten Freunde von refugees aus dem Nahen Osten und aus Afrika geworden sind: Freunde, die ohne Forderungen oder eigene Stimme, nur mit genügend Strom und etwas Internetsignal zu Gesprächspartnern und Gefährten werden. Dabei berücksichtigen refugees oft nicht, wie gefährlich die ständige Beschäftigung mit dem Smartphone sein kann. Das Smartphone war für sie ein wichtiges Mittel, um nach Europa zu gelangen. Aber warum können sie ihr Smartphone nicht loslassen und andere Freund*innen finden - nun, wo sie doch mitten in Europa angekommen sind?

Der Populismus gegen «Asylanten» und die Angst der Europäer*innen vor diesen suspekten refugees sowie deren daraus resultierende Marginalisierung ist offensichtlich eine der grössten Motivationen für refugees, im Smartphone Zuflucht zu suchen. Im Smartphone finden sie ihre Utopie, welche sie seit Verlassen ihrer Heimat mit sich tragen. Oder sie versuchen, durch die virtuelle Welt hier in Europa Freund*innen oder eine Perspektive zu finden.

Viele refugees flüchten mit angelegten Kopfhörern vor der Drahtlosigkeit zur Gesellschaft in die drahtlose Internetwelt. Sie versuchen, mit Pornographie ihren jugendlichen Drang und ihre Neigungen zu mindern. Und manchmal plaudern sie mit ihren Freund*innen in der Heimat über den geringeren Stress hier, über die Aufregungen um das Internet in der Unterkunft, das lange Warten auf freie Stecker zum Aufladen des Telefons, über ihre Hoffnung auf eine Aufenthaltsbewilligung, Hoffnung auf bessere Tage mit weniger Erwartungen und Nächten ohne das Smartphone.


Viele refugees flüchten mit angelegten Kopfhörern vor der Drahtlosigkeit zur Gesellschaft in die drahtlose Internetwelt.


Warum verbringen die meisten Geflüchteten trotz der Gefahren, die von der übermässigen Nutzung des Smartphones ausgehen, einen Grossteil ihrer Zeit damit? Alan, ein 21-jähriger refugee im Kanton Luzern, meint dazu: «Refugees haben wenig zu tun. Das führt zu Trostlosigkeit. Ebenso können viele mit der Technologie und den modernen Errungenschaften nicht angemessen umgehen. Deswegen schlagen sie in Europa ihre Zeit mit dem Smartphone tot.»

Der latente Sexismus in Smartphones

Die meisten Flüchtlinge in Europa sind jung: Singles oder Familien mit oder ohne Kinder. Das ist mit der Demographie Afrikas und des Nahen Ostens zu erklären und damit, dass die Fluchtwege eher von jungen Menschen bezwungen werden können. Aber nach welchen Kriterien werden diese Leute, die viel Potenzial für Bildung und Arbeitsmarkt mitbringen, auf Camps aufgeteilt, und nach welchem Massstab werden sie untergebracht? Lassen Sie uns die Asylheime näher betrachten. Warum wird dort eine Trennung vorgenommen nach Männern, Frauen und Familien, ergänzt durch Ethnizität und
Religion? Steht diese Trennung nicht im Einklang mit eben denjenigen Werten der patriarchalen Gesellschaften, vor denen diese jungen Leute geflohen sind? Vielleicht stellt sich für die meisten refugees die Frage nicht, warum in Europa die Geschlechtertrennung in Asylheimen selten durch ein Gegenprojekt, durch eine moderne Kultur ersetzt wird. Doch die Haltung der Europäer*innen ist widersprüchlich. Denn während sie in Asylheimen eine vormoderne Kultur fördern, erwarten sie gleichzeitig, dass die refugees problemlos und rasch in einem für sie neuen System arbeiten sollen, und klagen über die Müdigkeit Europas aufgrund des ständigen Zustroms von refugees, über deren Straffälligkeit und über Belästigung von Frauen durch männliche refugees.

Diese Zustände haben Folgen: Der Sexismus und die Sucht nach dem Internet sowie der Teufelskreis aus Pornographie und Neigung zur Selbstbefriedigung gipfeln in einer Angst des Smartphone-refugees vor dem anderen Geschlecht. Er bevorzugt sein Smartphone vor anderen Gefährt*innen. Einige refugees haben sogar auf Menschen des gleichen Geschlechts aus ihrer Heimat einen sexistischen Blick. Wie tragisch und gleichzeitig komisch, dass schwerer Sexismus, der manchmal nationalistischen Gefühlen, der Entfernung von der Heimat und den daraus entstandenen Schuldgefühlen entspringt, zugleich die Ursache für Auseinandersetzungen in den Camps ist. Das Smartphone mit schnellem Internet ohne Filter ist der einzige Kanal, der sich ihnen anbietet und nichts von ihnen verlangt, der sie mit offenen Armen aufnimmt. Ganz simpel: aufladen und mit dem Internet verbinden. Aber das ist nur der Anfang des Weges. Am Ende mutieren solche refugees zu virtuellen Wesen, die mit der Realität nicht umgehen können.

Übersetzung aus dem Persischen: Hamid Hosravi und Siavash Namehshiri
Bearbeitung: Redaktionskollektiv

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