24. November 2016 Aden Homberger und Michael Schmitz
Im griechischen Flüchtlingslager Oreokastro haben die Bewohner*innen die für sie zuständige NGO herausgeworfen und die Verwaltung ihres Alltags selbst in die Hand genommen: Ein Lichtblick, der die widrigen Umstände jedoch nicht vergessen machen kann.
Wenn der Refugees Council des Lagers Oreokastro bei Thessaloniki die Früchte seiner Arbeit präsentieren kann, ist er stolz: «Dank unserer Selbstorganisation konnten wir kaufen, was wir wirklich brauchen: Keine Seife mehr, endlich können wir unsere Haare mit Shampoo waschen 😊😊😊», heisst es auf Englisch und Arabisch in einem Post von The Voices of Oraiokastro. In anderen Posts des Blogs, über den wir hier berichtet haben, wird der neue Frauenraum präsentiert oder man sieht den Council und seine Helfer*innen bei der Verteilung von Nahrungsmitteln in der vormaligen Lagerhalle, unter deren grossen Blechdach nun 1300 Menschen in Zelten untergebracht sind. Alles gut also in Oreokastro? Mitnichten!
Schlechte Versorgung durch NGO
Seit der Schliessung der sogenannten Balkanroute und der Räumung des Transitcamps Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze im Mai 2016 hat die Medienaufmerksamkeit an der Situation der Geflüchteten in Griechenland stark abgenommen. Über 50'000 Menschen sitzen zurzeit auf dem griechischen Festland fest und wurden in Camps quer über das ganze Land verteilt. Die Camps haben kaum diesen Namen verdient, oftmals bestehen sie nur aus Stoffzelten und Dixie-Toiletten. Meist sind sie auf alten Militärgelände oder in leerstehenden Industriehallen untergebracht. Diese sind abgelegen und mit öffentlichem Verkehr kaum zu erreichen.
Eines dieser Camps ist Oreokastro. Es liegt etwa 11 km ausserhalb von Thessaloniki, der zweitgrössten Stadt Griechenlands. Abwechslung gibt es hier keine. Am Eingang sitzen Polizisten und kontrollieren ab und an, wer hereingeht. Offiziell dürfen nur die Bewohner*innen und Personal der offiziell registrierten NGOs das Areal betreten. Anfangs hofften die Bewohner*innen, dass sich die Situation im Lager schnell verbessern könnte, wenn die Kooperation mit den Behörden und den NGOs im Camp gut funktioniere. Diese Hoffnung wurde allerdings bitter enttäuscht. Mohammed, der bereits seit Mitte Mai in Oreokastro lebt, erklärt:
«Wir haben zugeschaut, wie diese inkompetenten Leute der NGO die Lebensmittel, die für uns bestimmt waren, in den Containern in der Sonne verrotten liessen.»
Er erhebt schwere Vorwürfe gegen die Verantwortlichen: «Sie selbst haben sich daran bedient, und auch an die Polizei haben sie ordentlich verteilt. Aber wir haben nichts davon gekriegt. Wir haben nicht das erhalten, das wir gebraucht hätten. Kein Shampoo und kein Waschmittel, nur Seife. Keinen Tee, kein Zucker, kein Öl und kein frisches Gemüse. Nichts, womit wir selber hätten kochen können, obwohl dies sehr wertvoll für uns ist. Kochen ist etwas Soziales und gibt uns etwas zu tun in dieser öden Warterei. Ausserdem können wir dann darüber bestimmen, was wir und unsere Kinder essen. In diesem Lager, wo wir sonst über nichts bestimmen können, ist das immerhin etwas. Wir haben uns bei der Leitung des Camps über die schlechte Versorgung beklagt, aber nichts ist passiert.»
Im Juli 2015 regte sich erster Widerstand gegen die Organisationen und die Verwaltung des Camps. Die Bewohner*innen beschlossen, sich nicht länger ignorieren zu lassen. Viel hat sich seither getan. Bei einem Protest Ende Juni warfen sie die Organisation Team Humanity (siehe Kasten am Ende des Textes) aus dem Camp und forderten, in die Entscheidungsprozesse der Camp-Verwaltung miteinbezogen zu werden. Gemeinsam mit einigen unabhängigen Unterstützer*innen haben sie begonnen, selbst Spenden zu sammeln und die Lebensmittel und Hygieneartikel zu besorgen, die sie wirklich benötigten. Zudem haben sie mit dem Refugees Council ein Komitee gebildet, das die heterogene Zusammensetzung des Camps repräsentieren soll und nun an den wöchentlichen Treffen der Behörde, der Camp-Verwaltung und aller beteiligten Organisationen teilnimmt.
Der Refugees Council liefert Resultate
Dem Komitee ist es gelungen eine Schule aufzubauen, sowie einen Frauenraum zu organisieren. «Wir mussten viel diskutieren mit allen Beteiligten im Camp. Aber jetzt haben wir eine Schule. Wir unterrichten verschiedene Altersstufen und verschiedene Fächer, von Naturwissenschaften über Mathematik bis Geschichte und natürlich Sprachen. Bis auf Griechisch wird alles von Leuten aus dem Camp unterrichtet. Beim Englischkurs helfen Freiwillige mit. Diese haben uns auch geholfen, Unterrichtsmaterial zu kaufen. Das gibt uns zumindest ein bisschen Hoffnung, und wir können lernen», sagt Laith. Der junge Mann hat auch angefangen im Internet Deutsch zu lernen, denn in Griechenland bleiben möchte er nicht. Auch in anderen Camps, wie zum Beispiel in Lagkadikia, haben sich geflüchtete selbst organisiert und die Gruppe Jafra Refugee2Refugee Support gegründet.
Nach einige Monaten der Selbsorganisation kann Mohammed, der das Komitee mit-initiiert hat, eine erste Bilanz ziehen:
«Wir haben es geschafft die Versorgung für alle Leute im Camp etwas zu verbessern. Aber einiges konnten wir nicht verändern: die Einstellung der Behörden und der Polizei gegenüber uns beispielsweise.»
Oft erscheinen die Vertreter*innen von Behörden und Polizei gar nicht zu den Treffen. Das bittere Fazit von Mohammend: «Sie nehmen uns nicht ernst, aus dem einzigen Grund, weil wir Geflüchtete sind.»
Die Missachtung der Geflüchteten hatte tödliche Folgen. Direkt vor dem Camp führt eine Hauptstrasse vorbei. Am 16. Oktober wurden eine Frau und ihr Sohn von einem vorbeirasenden Auto erfasst und getötet. «Wir haben es immer wieder gesagt. Allen: den Behörden, der Polizei, den NGOs. Sie hätten „Achtung“-Schilder und Tafeln zur Geschwindigkeitsbegrenzung an der Strasse vor dem Camp aufstellen sollen. Warum haben sie nichts getan? Müssen immer Menschen sterben bevor sie etwas tun?», sagt Mohammed wütend. Nach dem tödlichen Unfall zeigte sich, wie geladen die Stimmung in den griechischen Camps ist: Es kam zu Randalen. Die Geflüchteten zündeten das Auto des Rasers an, der sich in der Polizeistation des Camps in Sicherheit brachte. Mülleimer brannten, die Bereitschaftspolizei griff ein.
Die einzige wirkliche Lösung heisst: Open the borders!
Denn eines ist trotz der Erfolge, welche die Selbstorganisation gebracht hat, klar: Das Hauptproblem der Menschen in den griechischen Camps kann dadurch nicht gelöst werden. Mohammed ist nicht optimistisch: «Wir sind nun schon so lange in dieser schlimmen Situation, gegen die wir nicht ankommen. Es wird uns gesagt, wir müssten warten, aber dies ist unerträglich. Niemand scheint es zu kümmern, wie es uns geht. Da ist es nur normal, dass die Menschen wütend und verzweifelt werden.» Zu Ungewissheit und Perspektivenlosigkeit kommt in Oreokastro ein verbreiteter Alltagsrassismus hinzu, über den The Voices of Oreokastro in ihrem Text Der Spass, ein Flüchtling zu sein sarkastisch berichtet haben. Die Elternvereinigung von Oreokastro drohte im September dem Erziehungsministerium mit der Besetzung der Schule, falls dort Kinder aus dem Flüchtlingscamp den Unterricht besuchen würden.
«Wir wollen nicht hier bleiben. Griechenland ist ein armes Land, es kann nicht für so viele Flüchtlinge sorgen.“ sagt Mohammed.
«Die EU muss die Grenzen wieder aufmachen und uns die Möglichkeit geben, an einem Ort zu leben, wo wir in Sicherheit und Würde eine Zukunft für unsere Kinder aufbauen können. Hier können wir kaum überleben!»
So sind die einzigen wirklichen Good News aus Oreokastro, wenn es jemand trotz aller Hindernisse ins ersehnte Deutschland geschafft hat – wie vor einigen Tagen Laith, der Junge, der in Camp angefangen hat Deutsch zu lernen.
Mehr lesen:
- The Voices of Oreokastro: aktuelle, mal ermutigende, mal bedrückende Einblicke in den Alltag und die Selbstorganisation in Oreokastro.
- Moving Europe: Englischsprachige Berichte zu Oreokastro
Team Humanity: Naivität oder Kriminalität?
Die dänische NGO Team Humanity gehört zu den vielen Gruppen und Grüppchen, die im Sommer 2015 entlang der damals geöffneten Balkanroute gegründet wurden. Team Humanity war zuerst auf der Insel Lesbos aktiv, wo es unter anderem Seenotrettung leistete. Diese Tätigkeit trug zwei Mitgliedern eine Strafverfolgung durch den griechischen Staat wegen «Menschenschmuggels» ein. Anschliessend wechselte die Gruppe den Brennpunkt und zog nach Idomeni, wo sie gemäss eigenen Angaben für das «Areal D» des Camps zuständig war. Nach dessen Räumung sollte sich Team Humanity um humanitäre und medizinische Einrichtungen im Camp Oreokastro sorgen. Es fragt sich, ob die NGO wirklich, wie von den Geflüchteten vermutet, Nahrungsmittel unterschlagen und mutwillig die Interessen der Bewohner*innen vernachlässigt hat – oder ob hier nicht vielmehr eine unerfahrene, etwas naive Gruppe zwischen die Fronten eines überforderten Staates und aufgebrachten Geflüchteten geraten ist und dabei selbst die Orientierung verloren hat.
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