10. Mai 2023 Tomas (Name geändert) und Paul Leuzinger

Wo ich wohne

Bild: Emilio Nasser

Keine Fenster, komplette Isolation: Die Situation von Tomas zeigt, wie prekär kleine Gemeinden die ihnen zugeteilten Geflüchteten unterbringen.

Die Situation von Tomas ist ein Beispiel, wie kleine Gemeinden die ihnen zugeteilten Geflüchteten unterbringen. Es gibt unseres Wissens dafür keine Mindest-Standards. Die Quoten-Zuteilung schafft grosse Ungleichheiten. Die Qualität der zugewiesenen Unterkunft ist Resultat einer Lotterie. Die Lebensqualität der Betroffenen ist – nicht erst seit dem Ukraine-Krieg – oft prekär, die Möglichkeiten, sie zu verbessern gering. Die Isolation kann ein grosses Mass annehmen.

Wo ich schlafe, ist die Decke weiss und etwas gelb. Sie haben den Beton mit Brettern gemacht. Ich kenne alle Äste der Bretter. Ich liege auf meinem Bett und denke immer: Ich bin jung. Ich möchte etwas tun. Ich möchte arbeiten. Ich möchte meiner Frau und meinen Kindern Geld schicken. Sie sind nach Äthiopien geflüchtet. Wann bekomme ich endlich Papiere? Wann bekomme ich eine Arbeit? Ich schaue auf meine Hand. Auf das T, das dort tätowiert ist. Ich bin T wie Tomas. Mein Vater ist vor fünf Monaten gestorben. Sein Foto ist neben meinem Bett. Meine Mutter ist allein.

Wo ich schlafe, ist die Decke weiss und etwas gelb. Wenn ich das Neonlicht ausmache, ist es ganz dunkel. Es gibt kein Fenster. Jetzt kann ich das Licht ausmachen, wann ich will. Ich wohne allein hier. Früher waren wir vier. Eine kurze Zeit war auch eine Frau aus der Ukraine hier.

Ich bin seit mehr als fünf Jahren an diesem Ort. Ich muss nach draussen gehen, um in die Küche zu kommen. Ich muss nach draussen gehen, um aufs WC zu gehen. Ich muss nach draussen gehen, um Internet zu haben oder zu telefonieren. Wenn ich draussen eine Treppe hochgehe, komme ich auf einen Spielplatz. Daneben ist die Schule. Die Kinder schauen mich an. Ich kann wenig Deutsch. Ich möchte Sport treiben, schwimmen, Velo fahren.


Ich bin jung. Ich möchte etwas tun. Ich möchte arbeiten.


Wo ich wohne, ist ein kleines Dorf auf dem Land. Ich wurde von Hinteregg hierher zugeteilt. Das Dorf hat eine Kirche, eine Schule, eine Käserei und eine Bäckerei. Keinen Einkaufsladen oder Kiosk. Kein Restaurant. Jede Stunde fährt der Bus in den Bezirkshauptort oder ins Tal hinab. Er kostet Fr. 6.20. Ich darf nicht arbeiten und bekomme alle zwei oder drei Wochen Fr. 180.–. Pro Tag kann ich also manchmal höchstens Fr. 8.60 ausgeben. Für Essen, Kleidung, Transport, Handy, für alles.

Ich bin am Sonntag in die Kirche gegangen. Aber nur eine Familie hat mich gegrüsst. Der Pfarrer hat mir ein Halbtax-Abonnement geschenkt. Jetzt kostet das Billett in den Bezirkshauptort noch Fr. 3.10, nach Zürich Fr. 6.50. Wenn ich ohne Billett fahre, bekomme ich eine Busse. Wenn ich sie nicht bezahlen kann, muss ich ins Gefängnis und bekomme eine Vorstrafe. Und zusätzliche Schwierigkeiten beim Härtefallgesuch.

Letztes Jahr nahm ich an einem Solinetz-Tandem teil: Ich traf regelmässig K. Sie brachte mich in die ASZ. Wir redeten, assen und verbrachten gemeinsam Zeit mit Unternehmungen. Über das Tandem-Programm bekam ich den 9-Uhr-Pass, und seit ich an der ASZ in der Cafégruppe aktiv bin, bekomme ich Ticket-Geld. Das hat meine Situation sehr verbessert. Ich stecke nicht mehr in diesem Dorf fest, kann besser Deutsch lernen und habe Kontakte und Freunde gefunden.


Der Präsident sagte, die Zivilschutzanlage genüge für einen jungen Mann. Er kenne mein Land. Unsere Häuser sähen nicht besser aus.


K. und einer Freundin von der ASZ habe ich gezeigt, wo ich wohne. K. hat mit der Gemeinde gesprochen und nachher mit der Zeitung dieser Gegend. Die Zeitung hat eine Reportage gemacht. Der Präsident sagte, die Zivilschutzanlage genüge für einen jungen Mann. Er kenne mein Land. Unsere Häuser sähen nicht besser aus. Ich glaube, er findet es nicht gut, dass ich aus der eritreischen Armee weggegangen bin und dass ich hier bin und seine Gemeinde für mich verantwortlich ist. Den Geflüchteten aus der Ukraine hat er Wohnungen gegeben. Ich glaube, er möchte, dass ich zurück nach Eritrea gehe. Denn ich habe einen negativen Bescheid bekommen.

Wo ich schlafe, ist die Decke weiss und etwas gelb. Wo ich herkomme, ist der Himmel meistens hell und blau. Nur während drei Monaten nicht, wenn es regnet. Dafür ist es grün auf den Feldern um mein Dorf. Mein Dorf ist sehr schön. Mit vielen grossen Maulbeerbäumen. Wir hatten Kühe, Ziegen, Schafe und Esel. Aber in meinem Land herrscht eine Militärdiktatur und Krieg in Tigray. Ich wurde 2013 ins Militär eingezogen. Man weiss nicht, wie lange es geht. Es war schlimm. Ich liess mir im Militärgefängnis auf den Unterarm ein Kruzifix stechen. Auf dem anderen war schon ein Kreuz tätowiert. So bin ich gezeichnet. Mein Dorf ist sehr schön, aber man kann nicht mehr da leben wegen der Regierung. Ich habe drei Brüder. Einer ist gestorben. Wir übrigen sind verstreut in Europa, in Deutschland, in Schweden, in der Schweiz.

Wo ich schlafe, ist die Decke weiss und etwas gelb. Ich muss an das Jahr 2016 denken, als ich beschloss, aus der Armee zu desertieren und zu flüchten. Über die Höllen im Sudan und Libyen erreichte ich zusammen mit vierhundert Männern und einer Frau in einem Boot Italien. Von dort kam ich per Zug nach Lugano, wo die Polizei uns kontrollierte.

Wann bekomme ich endlich Papiere? Wann bekomme ich eine Arbeit? Ich schaue auf meine Hand. Auf das T, das dort tätowiert ist. Ich bin T wie Tomas.

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