10. Mai 2022 Sourivanh Thalong

«Meine Mutter hat mir immer gesagt, dass Lügen nicht gut sei.»

Gabriela erzählt über das Leben ohne Aufenthaltsbewilligung, und wie die Polizei sie abführte, als sie ohne gültigen Ausweis Bus gefahren ist.

Gabriela (*Name geändert) ist 13 Jahre alt und lebt ohne gültigen Ausweis in der Schweiz. An einem sonnigen Freitagmorgen konnte Sourivanh Thalong von der Papierlosen Zeitung mit Gabriela sprechen. Auch Gabrielas Mutter und eine Mitarbeiterin der SPAZ nahmen am Gespräch teil. Das Gespräch wurde mithilfe der Sans-Papiers Anlaufstelle Zürich (SPAZ) und des Vereins «Züri City Card» organisiert.

Wann hast du das erste Mal realisiert, dass du keinen geregelten Aufenthaltsstatus hast?
Gabriela: Als ich in die Schweiz gekommen bin, dachte ich, dass ich hier normal leben werde wie andere Menschen. Aber letzten Dezember, als ich meine Familie nicht besuchen konnte, habe ich realisiert, dass ich keinen regulären Status habe.

Wie fühltest du dich, als dir das bewusst wurde?
Ich war sehr traurig. Es war schwierig für mich. Nicht nur, weil ich keine Ferien machen oder in andere Länder reisen kann. 


Letzten Dezember passierte familiär etwas Einschneidendes. Darauf wird Gabriela später im Gespräch näher eingehen …


Du bist schon fast vier Jahre in der Schweiz. Fühlst du dich hier zuhause?
Ja, ich fühle mich eigentlich sehr wohl. Ich fühle mich sicher hier; niemand bringt mich um, nur weil ich ein Handy habe oder wenn ich Velo fahre. Obwohl ich auch in meinem Heimatland glücklich war, kann man sagen, dass ich hier in der Schweiz glücklicher bin. Denn hier habe ich meine Kolleginnen. Hier kann ich rausgehen und ich weiss: Mir wird nichts passieren.

Was macht es für dich aus, dass du dich hier wohl fühlst?
Ich glaube die Sprache. Als ich hierherkam, konnte ich mich überhaupt nicht verständigen – kein Wort. Aber dann habe ich schnell Deutsch gelernt – auch Schweizerdeutsch – und kann mich jetzt mit meinen Kolleginnen unterhalten und mit ihnen rausgehen. Aber in den ersten zwei Jahren war es sehr schwierig, und ich wurde gemobbt.

Weil du noch nicht Deutsch sprachst?
Ja, genau. Das war schwierig. Aber jetzt weiss ich: Die Schweiz ist mein zweites Land; da, wo ich mich richtig wohl fühle.
Wie spürst du im Alltag, dass du Sans-Papiers bist? Gibt es Dinge, die für dich anders sind als für deine Freund:innen?
Die gibt es, aber ich konzentriere mich darauf, einfach Spass zu haben. Momentan gehe ich nicht so viel nach draussen. Aber früher, als ich öfters unterwegs war, war mir der Status schon immer bewusst. Doch ich sagte mir auch: «Es ist egal. Ich konzentriere mich auf den Spass.»

Hast du denn hier keine Angstgefühle, wenn du draussen unterwegs bist?
Doch schon , wegen der Polizei. Andere Personen in meinem Alter laufen einfach irgendwo über die Strasse, nicht über den Zebrastreifen. Ich passe hingegen auf, dass nicht irgendwelche Sachen passieren.

Deine Freund:innen müssen sich keine Gedanken machen, wenn sie ins Ausland gehen. Fühlst du dich im Vergleich zu ihnen eingeschränkt in deiner Bewegungsfreiheit?
Ja, ich würde schon gerne einige Sachen machen, die ich als Sans-Papiers nicht machen kann. Ich bin mit neun Jahren in die Schweiz gekommen und konnte dadurch einige Dinge nicht erleben. Ich war viel zu Hause, weinte oft. Ich sehe, wie andere Spass haben – sie sind in den Ferien, sie unternehmen etwas –, aber ich kann das nicht machen, weil ich Sans-Papiers bin.

Wie hast du deine Freund:innen kennengelernt?
In der Schule. Früher ging ich auch noch oft nach draussen. Dort habe ich einige Leute kennengelernt. Sie wurden dann meine besten Kollegen und so habe ich noch mehr Leute kennengelernt.

Wissen deine Freund:innen von deinem Status?
Nein, sie wissen das nicht. Nur die SPAZ und ein paar Personen  wissen das.

Mit wem tauschst du dich aus, wenn du Angst hast? Oder wenn du über dieses Thema reden möchtest?
Ich habe sehr viele Personen, mit denen ich reden kann, aber ich fühle mich am wohlsten bei meiner Mutter. Sie weiss alles über mich. Ich weiss: Wenn ich Probleme habe, versteht sie mich. Sie würde nicht sagen: «Das macht man nicht!» … Also vielleicht schon, aber nicht so, dass ich mich danach schlechter fühle. Sie ist alles für mich.

Wissen deine Lehrkräfte von deinem Status?
Ja, sie wissen das; zum Beispiel für den Fall, dass wir einen Ausflug machen. Momentan gehe ich nicht zur Schule, weil wir umziehen mussten. Aber die Lehrerin an der neuen Schule weiss es.

Bist du aufgeregt, in die neue Schule zu gehen?
Ich habe nicht so gerne Neuanfänge. Ich weiss, wie sich das anfühlt, und ich habe Angst, dass ich wieder gemobbt werde oder dass ich nicht so schnell Kollegen finde.


Gabriela besucht bald eine neue Schule, weil sie und ihre Mutter in eine andere Gemeinde gezogen sind. Dies wurde notwendig, nachdem Gabriela in eine Personenkontrolle geraten war – Einzelheiten dazu später.
In der Schweiz können Sans-Papiers-Kinder und -Jugendliche die obligatorische Schule besuchen. Auch der Besuch eines Gymnasiums oder einer Hochschule ist grundsätzlich möglich. Es ist den Schulen verboten, Informationen ihrer Schüler:innen an die Einwohnerkontrolle oder an Migrationsbehörden weiterzugeben.

 

So ganz allgemein: Worauf freust du dich dieses Jahr?
Eigentlich auf nichts. Die letzten drei Jahre habe ich mir immer etwas gewünscht. Als ich realisiert habe, dass es nicht in Erfüllung geht, dachte ich mir: Das wird sowieso nicht passieren, was soll ich mir noch irgendetwas wünschen? Und das Wichtigste, das ich hatte, war meine Grossmutter – und jetzt ist sie nicht mehr hier. Was soll ich mir noch wünschen?

Willst du mehr darüber erzählen?
Im Dezember ist meine Grossmutter gestorben. Das war sehr schwierig für mich. Als meine Kollegen das erfahren haben, haben sie gefragt: «Wieso gehst du nicht zur Beerdigung in dein Heimatland? Warum gehst du nicht zu deiner Familie?» Da musste ich irgendetwas erzählen, das nicht stimmt. Ich lüge allgemein nicht gerne. Ich merke auch, wenn meine Mutter traurig ist, aber sie sagt es mir nicht. Ich werde dann traurig, weil ich nicht weiss, wie ich ihr helfen kann.

Als dich deine Freund:innen fragten, warum du nicht zu deiner Familie ins Ausland kannst, was hast du ihnen geantwortet?
Im ersten Moment sagte ich gar nichts. Erst nach ein paar Tagen habe ich etwas erfunden.

Fühlst du dich schlecht, wenn du lügen musst?
Ja, schon seit ich klein bin. Meine Mutter hat mir immer gesagt, dass Lügen nicht gut sei. Aber da ich jetzt hier bin und Menschen mich immer irgendwelche Dinge fragen, sagt sie: «Erfinde einfach etwas.» Dann verstehe ich nicht mehr, was richtig ist. Darf ich Lügen erzählen oder nicht? Es ist schwierig, ich fühle mich schuldig. Fragt jemand etwas, antworte ich das eine. Dann fragt mich jemand anderes das Gleiche und ich antworte etwas anderes, weil ich in dem Moment abgelenkt bin. Sie sagen dann: «Hä? Aber der anderen Person hast du etwas anderes erzählt.» Was soll ich dann sagen?

Du musst eigentlich immer genau wissen, was du wem gesagt hast, damit es aufgeht …
Ja, ich muss mir alles merken, damit ich es allen richtig erzähle. 


Gabriela machte vor Kurzem eine andere negative Erfahrung: Sie hatte ihr Busbillett vergessen und kam prompt in eine Billettkontrolle. Die meisten von uns müssen dann einfach eine Busse zahlen. Gabriela und ihre Mutter hingegen mussten aufgrund dieses Vorfalls umziehen. Nach kurzer Überlegung und Absprache mit ihrer Mutter erklärt sich Gabriela bereit, über den Vorfall zu sprechen.


Wie war das für dich, als du in die Kontrolle kamst und kein Billett vorweisen konntest?
Ich war auf dem Weg zu meiner Kollegin. Wir hatten für eine Übernachtung abgemacht, weil sie Geburtstag hatte. Ich musste den Bus nehmen, weil sie weit weg wohnt. Dann wurde ich kontrolliert und hatte das Ticket nicht dabei. Der Kontrolleur meinte, ich könne weitersuchen – denn ich hatte das Ticket gekauft. Er fragte mich, wie ich heisse, während ich am Suchen war. Ich habe ihm meinen Namen genannt. Der Kontrolleur meinte dann, dass er mich nicht im System findet. Und er fragte mich, ob ich Schweizer Bürgerin bin. 
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich hatte schon vorher mit meiner Mutter über solche Situationen gesprochen: Wenn so etwas passiert, darf ich nicht panisch werden. Aber ich konnte die Situation kaum aushalten. Ich weinte; wusste nicht, was ich machen soll. Dann kam die Polizei und meinte: «Wir müssen mit Ihnen über etwas reden – wir nehmen Sie mit auf den Posten.»
Ich konnte nur an meine Mutter denken, konnte sie aber nicht anrufen. Erst nach zwei Stunden durfte ich mit ihr sprechen. Wo auch immer ich hingehe, muss ich meine Mutter anrufen und sagen, dass alles gut ist. Aber in diesem Moment konnte ich das nicht machen. Sie hat mich in dieser Zeit tausend Mal angerufen, mir tausend Mal geschrieben: «Gabriela, wo bist du? Was ist passiert?» Das war schwer auszuhalten. Auf dem Weg zum Polizeiposten war ich die ganze Zeit am Heulen.

Also war es einerseits schwierig, weil du in dieser unangenehmen Situation warst, und zum anderen, weil du deine Mutter nicht informieren konntest?
Genau. Ich hatte so etwas noch nie erlebt. Als ich klein war, haben meine Eltern aufgepasst, dass ich nicht in solche Situationen gerate. Ausserdem wurde mein Onkel umgebracht, darum haben wir in der Familie Angst vor Waffen. In dem Moment hatte der Polizist aber eine Waffe dabei. Ich konnte das fast nicht aushalten, konnte kaum atmen. Die Polizisten merkten es vielleicht nicht, aber ich musste dringend aufs WC. Aber sie meinten: «Nein, du musst hier bleiben. Wir können dich noch nicht aufs WC lassen.» Das war sehr schlimm.

Was passierte danach? Irgendwann liessen sie dich vermutlich gehen?
Ich glaube, sie hatten verstanden, dass ich eine gute Schülerin bin und dass mein fehlender Aufenthaltsstatus nicht meine Schuld war. Ich war etwa fünf Stunden auf dem Revier. Die ersten zwei Stunden stellten sie Fragen. Ich hatte Hunger, darum bestellten sie dann eine Pizza für mich – das war sehr nett. Erst nachdem sie mir alle Fragen gestellt hatten, konnte ich mich beruhigen. Erst dann konnte ich wieder mein Handy benutzen und mit meiner Mutter telefonieren und ihr schreiben.

Konnte dich deine Mutter dann abholen?
Die Polizei holte meine Mutter ab. Dann ist etwas passiert – ich weiss nicht was, denn wir konnten wieder nach Hause. Zuerst wollten sie uns woanders hinbringen, aber das ist dann nicht passiert. Sie haben uns nach Hause gefahren.

Hat dir dieses Erlebnis gezeigt, was dein Sans-Papiers-Status für Auswirkungen auf dich hat?
Ja, ich fühlte mich sehr schlecht. Wäre das einer Person passiert, die nicht Sans-Papiers ist, wäre alles kein Problem gewesen. Was ich da erlebt habe, wünsche ich niemandem. 

Bist du vorsichtiger seit dieser Erfahrung?
Seither gehe ich kaum mehr nach draussen. Falls doch, nur mit meiner Mutter. Ausser gestern, da ging ich mit meiner Kollegin raus. Es war ganz gut, aber irgendwie fühlte ich mich nicht wohl, darum bin ich dann bald wieder nach Hause gegangen.

Denkst du, dass dir bei einer Billettkontrolle ein Ausweis wie die Züri City Card geholfen hätte?
Ja, sehr. Und ich hätte viel mehr Möglichkeiten als jetzt. Ich könnte mit Gleichaltrigen viele andere Dinge machen als nur zu Hause sein oder in die Bibliothek gehen. Das würde sehr helfen. Ich glaube, das würde auch ganz vielen anderen Menschen da draussen helfen.
Gibt es spezifische Beispiele, wo dir oder deiner Mutter so ein Ausweis helfen könnte?
Manchmal wollen wir etwas bestellen, aber können nicht, weil wir Sans-Papiers sind. Wir können unsere Adresse nicht angeben. Wir können sehr viele Dinge nicht sagen oder machen. Zum Beispiel zur Post gehen und etwas abholen. Mit der Züri City Card könnten wir das machen und vieles mehr.

Würdest du dich sicherer fühlen, auch bei anderen Kontrollen?
Ja, viel. Ich würde wohl nicht so zittern … Ich wäre mir sicher, dass nichts passieren würde. Ich könnte die Züri City Card zeigen und alles wäre in Ordnung. Aber ohne Ausweis ist das sehr schwierig.

Frage an die Mutter: Wie würde dir eine Züri City Card helfen?
Die Mutter: Ich bin mir bewusst, dass die Züri City Card unseren Aufenthaltsstatus nicht ändert. Aber viele Sachen würden sich verbessern. Wie Gabriela es bereits gesagt hat: Zur Post zu gehen, um etwas abzuholen, wäre einfacher. Oder wenn wir eine neue SIM-Karte fürs Handy kaufen müssen … Jetzt sind wir immer auf andere Personen angewiesen. Manchmal möchten diese Personen aber nicht helfen. Für uns wäre es eine grosse Erleichterung, wenn wir so etwas hätten.

Gabriela, du bist in der ersten Sekundarklasse. Irgendwann stellt sich die Frage: Wie geht es weiter mit der Ausbildung? Hast du Pläne?
Ich habe viele Pläne für meine Zukunft. Aber ich weiss ja nicht, ob ich das dann wirklich machen will und ob ich es schaffe. Das liegt an vielen Dingen, aber auch daran, dass ich Sans-Papiers bin. Ich habe Angst, eine Lehre anzufangen, weil ich keine Papiere habe. Aber ich weiss, mit der SPAZ wird das sicher möglich sein. Mit der SPAZ passiert mir nichts. 
Hast du dir schon Berufe überlegt, die du gerne ausüben würdest?
Ich möchte Ärztin werden, Neurologie studieren. Oder Architektin. Oder auch andere Berufe wie Tierärztin. Sehr viele Dinge … aber ich bin mir noch nicht ganz sicher.


Argumente für die Züri City Card

Gerüchte und Unwahrheiten kursieren zur Züri City Card. Damit Sie bei der nächsten Diskussion brillieren können, liefern wir Ihnen hier ein paar stichhaltige Argumente für die Züri City Card:

  • Die Stadt darf Ausweise ausstellen. Die Zulässigkeit der Ausstellung «eines städtischen Ausweisdokuments, welches den Inhaber oder die Inhaberin identifiziert und mit einem bestimmten, spezifisch auf die Stadt Zürich bezogenen Sachverhalt verknüpft», wird durch das vom Stadtrat beauftragte Rechtsgutachten «Einführung einer Züri City Card (ZCC)» der Universität Zürich gestützt. So gibt es schon heute amtliche Ausweise für Zürcher Taxifahrer:innen oder Schülerausweise städtischer Gymnasien.
  • Die Einführung der Züri City Card führt zu keiner Änderung des Aufenthaltsstatus von Sans-Papiers. Somit tangiert sie keinesfalls übergeordnetes Recht wie etwa das Migrationsrecht. Mit der Züri City Card können sich lediglich alle Bewohner:innen der Stadt Zürich – auch hier wohnhafte Sans-Papiers – gegenüber städtischen Behörden und Privaten, welche die Züri City Card als Ausweisdokument akzeptieren, ausweisen.
  • Die Züri City Card reicht als Ausweisdokument zur Identitätsfeststellung – auch gegenüber der Stadtpolizei. Dies ist der Fall, wenn es keinen anfänglichen, dringenden Verdacht auf illegalen Aufenthalt der kontrollierten Person gibt. Auch dies wird durch das Rechtsgutachten der Universität Zürich gestützt.
  • Da die Züri City Card von der gesamten Stadtbevölkerung benutzt werden soll, lässt das Vorweisen des Ausweisdokuments keine Rückschlüsse auf den Aufenthaltsstatus zu. Sans-Papiers werden durch das Tragen der Züri City Card also nicht als solche gelabelt.
  • Beim Ausstellungsverfahren der Züri City Card muss ein allenfalls entdeckter irregulärer Aufenthalt nicht an Migrations- oder Strafverfolgungsbehörden gemeldet werden. Dies ist möglich, wenn die Ausstellung eine Verwaltungseinheit wahrnimmt, welche ausschliesslich diese Aufgabe innehat sowie einer besonderen Geheimhaltungspflicht unterstellt ist. Das ist gemäss dem Rechtsgutachten der Universität Zürich lediglich eine organisatorische Frage. Konflikten mit behördlichen Meldepflichten kann also strukturell entgegengewirkt werden.

Über den Rahmenkredit für die Einführung der Züri City Card stimmt das Zürcher Stimmvolk am 15. Mai 2022 ab. 


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