16. August 2021 Berhanu Tesfaye

«Es spielt eine grosse Rolle, ob man irgendwohin fahren kann»

Menschen aus der ASZ erzählen von ihren Erfahrungen im Schweizer Bildungssystem. Wie Berhanu Tesfaye mit 59 Jahren eine Stelle fand.

Heute mache ich etwas ganz anderes als ich studiert habe. Ich arbeite in der Küche des Restaurants «Westlink» in Zürich, das von der Gastronomiegruppe ZFV geführt wird. Wir sind ein kleines Team mit einer klaren Struktur. Frühmorgens beginnen wir mit den Vorbereitungen für das Mittagsmenu.

Zurzeit kochen wir 100 Mittagessen pro Tag; vor der Pandemie waren es bis 700. Wir sind in Kurzarbeit, ich kann jede zweite Woche arbeiten. Unsere Corona-Schutzmassnahmen sind gut organisiert und streng. Als Restaurant achten wir besonders auf die Hygiene; schliesslich gibt es auch unangemeldete Kontrollen. In meinem Team hat sich bisher niemand angesteckt. Ich fühle mich sicher an meinem Arbeitsplatz.

Der Weg, bis ich hier normal arbeiten konnte, war sehr lang. 15 Jahre lebte ich in der Schweiz, bis ich eine Aufenthaltsbewilligung bekam. Während all der Jahre mit N-Status und als abgewiesener Asylsuchender durfte ich offiziell nicht arbeiten. Als ich die B-Bewilligung endlich erhielt, war ich 59 Jahre alt. Meine Sozialbetreuerin sagte mir: «In deinem Alter kann ich dich nicht in eine Weiterbildung schicken, du bist über 55.» Ich sagte mir: Dann versuche ich selber, eine Stelle zu finden.

Beim ZFV hatte ich mich elf Mal beworben, vergeblich. Dann sah ich wieder ein Inserat und schickte nochmals eine Bewerbung. Diesmal wurde ich zu einem Gespräch eingeladen. Meine erste Frage war: «Kann ich mit 59 überhaupt noch bei euch anfangen?» Der Probetag lief gut; innerhalb von zwei Wochen hatte ich den Vertrag. Seither arbeite ich im «Westlink».

In Äthiopien habe ich den Bachelor in Agrarwissenschaft gemacht. Über 16 Jahre arbeitete ich im Agrarbereich. Danach studierte ich in den Niederlanden «Rural Development» und schloss mit dem Master ab. Nachdem ich in die Schweiz gekommen war, versuchte ich, eine Arbeit in meinem Feld zu finden. Aber das war wegen des N-Status nicht möglich, wie mir zum Beispiel die Organisation «World Vision» sagte, bei der ich mich vorstellte, weil sie auch Projekte in Äthiopien realisiert.

Ich habe auch bei NGOs ausserhalb der Schweiz angefragt. Auch daraus wurde nichts. Dass ausländische Diplome in der Schweiz wenig zählen, ist ein zusätzliches Problem. Und eben, nach der B-Bewilligung war ich schon 59.

Während meiner Zeit ohne Papiere habe ich am frühen Morgen in der Notunterkunft geputzt, das gibt ein paar Franken pro Tag. Oder ich habe bei Umzügen geholfen. So konnte ich mir das Bahnbillett von Kemptthal nach Zürich kaufen. Denn als Asylsuchender spielt es eine grosse Rolle, ob man irgendwohin fahren kann. Ich war tagsüber nie in Kemptthal, sondern in den Bibliotheken der ETH oder der Universität, wo es Internet gab.

Ich habe in den Bibliotheken Deutsch gelernt, Zeitungen aus meinem Heimatland gelesen oder Artikel geschrieben. Bis ich meinen ersten Computer hatte, habe ich alles dort gemacht. Es hat mir viel geholfen, den Tag an diesen Orten zu verbringen. Auch die Bibliotheken in Winterthur, Dübendorf oder Affoltern am Albis habe ich genutzt. Ein Buch ausleihen, lesen, es zurückbringen – das ist eine gute Sache.

Lernen ist wichtig. Das sage ich auch den Menschen, die mich nach meinen Erfahrungen fragen: Wenn ihr eine Ausbildung machen könnt, konzentriert euch auf sie! Denn wenn man Zugang zu Bildung erhält, gibt einem das die Möglichkeit zu lernen und vorwärts zu gehen.

Berhanu Tesfaye hat die Autonome Schule mitgegründet und dort jahrelang Kurse moderiert. Er lebt in Zürich.

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