26. Juni 2023 Reywynx Reya Morgado

Tabula Rasa

Als politische:r Journalist:in wurde ich in meinem Land mit dem Tod bedroht. Ich musste fliehen – und landete in der Leere.

Ich war nicht leer, als alles begann. Ich war voll. Ich brannte vor Leidenschaft. Zitternd erhob ich meine Stimme. Ich
war kühn. Ich war entschlossen. Ich begann meine Geschichte mit flammendem Reformwillen.

Ich arbeitete als politische:r Journalist:in auf den Philippinen. Meine Aufgabe war es, die Öffentlichkeit mit wesentlichen Informationen über die Regierung zu versorgen. Ich erfüllte meine Pflicht. Ich schrieb alles, was ich sah – nicht bloss meine Wahrheit, sondern die Wahrheit meines Landes. Wer kann mir verübeln, dass ich nur über Missstände schrieb? Über
Menschenrechtsverletzungen, die die Regierung im blutigen Krieg gegen Drogen beging. Über die massenhaft getöteten
Menschenrechtsverteidiger:innen, Anwält:innen, Frauenrechtler:innen, LGBTQ-Aktivist:innen und Kirchenoberhäupter. Über die illegalen Verhaftungen von Aktivist:innen, Journalist:innen und Angehörigen anderer humanitärer Organisationen.

Ich arbeitete die Nächte durch, ich brachteeine Geschichte nach der anderen. Jeden Tag werden Dutzende bis Hunderte getötet, und ich fühle mich verpflichtet, die Geschichte eines jeden von ihnen zu kennen. Sie sind nicht nur meine Landsleute. Ich bin einer von ihnen. Ich unterstütze das, wofür sie eintreten, auch ich möchte mein Land von Unterdrückung befreien. Ich habe unzählige Tränen vergossen, vor Wut und Frustration. Noch nie wurde so sehr auf unseren Menschenrechten herumgetrampelt wie heute.

Mein grösster Zorn galt damals dem verrotteten System der Regierung meines Landes. Ich verabscheute sie dafür, dass
sie den Filipinos das Leben schwer machen. Ich hasste sie dafür, dass sie mein geliebtes Land ruinieren. Es ging mir nicht darum, Dankbarkeit zu erhalten für das, was ich tat. Ich tat es aus der Leidenschaft heraus, gegen Unterdrückung zu kämpfen. Was ich aber erhielt und worauf mich niemand vorbereitet hatte, waren Drohungen.

Ich weiss, dass es nicht ungewöhnlich ist, wenn Journalist:innen, die die Regierung kritisieren, mit Drohungen konfrontiert
werden. Aber es selbst zu erleben, war anders. Ich wurde heftig kritisiert, drangsaliert und mit dem Tod bedroht. Zum ersten Mal hatte ich Angst um meine eigene Sicherheit.

Dann ergab sich eine Gelegenheit, die ich als einzige Möglichkeit sah, mich zu schützen. Ein besorgter Mensch lud mich ein, in die Schweiz zu kommen, mich dort in Sicherheit zu bringen. Ich ergriff die Chance und flog in ein Land, von dem ich bisher nur gehört hatte – an einen Ort, der mir ganz und gar unbekannt war.

Kulturschock ist gar kein Ausdruck für das, was ich nach der Landung erlebte. Ich wusste, dass sich von nun an sehr vieles in meinem Leben ändern würde. My Slate, meine Schiefertafel, mit all meiner Persönlichkeit, Kühnheit und Leidenschaft, schien von dem neuen Wind, der über meine Haut wehte, leergefegt zu werden. Ich begriff, dass ich von vorn anfangen musste, bei null.

Ich habe keine Worte, um mein Elend zu beschreiben. Wie verwirrend es war, in einem neuen Land zu leben; in dem zu sein, ich mir nie hatte träumen lassen. Die Brise fühlte sich etwas kälter an. Mein Zimmer etwas geräumiger. Die Leere in meinem Herzen wurde grösser und grösser. Gute Nacht sagten mir nur die Tränen.

Ich fühlte mich allein in meinem Zimmer, also versuchte ich, hinauszukommen. Doch dort wurde ich von den unfreundlichen Bemerkungen fremder Menschen begrüsst. Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen. Ihr Blick war abschätzig. Und dann erinnerte ich mich daran, dass ich für sie «der fremde Mensch» war.

Im Widerspruch zu meinem biologischenGeschlecht, scheine ich «etwas in der Mitte» zu sein; subtile Bewegungen und eine «unmännliche» Stimme, die zu einem männlich gelesenen Körper gehören. Meine Statur ist viel schmaler, und ich bin viel
kleiner als die Menschen in der Schweiz. Sie haben zwei Gründe, auf mich herabzusehen. Zum einen, weil ich transgender
bin, zum anderen, weil ich Filipino bin.

Je länger ich mich im neuen Land aufhielt, desto häufiger wurde ich von den Leuten schlecht behandelt. Einmal, als ich gerade eine belebte Strasse entlangging, kamen Polizisten auf mich zu. Sie beschuldigten mich, ein Taschendieb zu sein. Ich war eine Sekunde lang erschrocken, dann stritt ich ihre Anschuldigung ab. Niemand schien mir zu glauben. Die Leute um mich herum redeten aufgebracht in ihrer Sprache. Ich verstand sie nicht, aber es fühlte sich an, als würde mein ganzes Wesen mit Füssen getreten.

Ähnlich war es, als ich aus heiterem Himmel, und wieder von Polizisten, nach Ausweisen und Bewilligungen gefragt wurde. Sie filzten meinen ganzen Körper. Für sie sah ich wie ein Krimineller aus.

Ich dachte, wenn ich in einem reichen und mächtigen Land lebe, in dem die LGBTQ-Gemeinschaft anerkannt und respektiert wird, würde es für mich einfach sein. Aber das ist es ganz und gar nicht. Es ist vielmehr, als würde Salz in eine Wunde gestreut. Ich habe versucht, Menschen zu erreichen, die ähnliche Erfahrungen machen wie ich. Ich besuchte ein Asylzentrum, in dem sich Mobbingopfer aus verschiedenen Ländern treffen und Kontakte knüpfen. Aber auch das erlebte ich nicht als sicheren Ort, stattdessen fühlte ich mich einmal mehr diskriminiert. Die Menschen meiden mich wegen meiner Geschlechtsidentität. Wieder einmal.

Bei allem, was mir widerfuhr – der Verurteilung, der Belästigung, der Diskriminierung – wurde mir eines klar. Meine zwischenzeitlich
leere Tafel begann sich wieder zu füllen. Sie mag voll von schlechten und hässlichen Erfahrungen sein. Übervoll mit knallroten Schrecken. Aber sie hat wieder Daten, Informationen. Es liegt jetzt an mir, sie zu etwas Nützlichem zu verarbeiten.

Ich werde stark aufstehen, noch stärker als zuvor, und das Unglück als Leiter benutzen, um Höheres zu erreichen. Vorbei sind die Zeiten, in denen ich nachts weinte und schluchzte, denn jetzt werde ich stolz darauf sein, wer ich bin. Ich erinnere mich daran, dass ich eine Stimme habe. Ich habe eine Million Träume für die Welt. Und ich glaube, wenn ich meine Stimme benutze, kann ich mehr als
eine Million Träume verwirklichen und sogar Berge versetzen.

Als ich anfing, war meine Tafel voll. Ihr Inhalt sank auf null, als ich dieses fremde Land erreichte. Aber jetzt füllt sie sich, beginnt vor Leidenschaft, Kühnheit und Sehnsucht überzulaufen.

Mit allem, was ich jetzt bin, und mit allem, was ich werde, kämpfe ich weiter gegen den Imperialismus, den Feudalismus und den bürokratischen Kapitalismus, die auf den Philippinen herrschen. Ich werde für meine Rechte eintreten, um eine Welt zu schaffen, die frei von Homophobie und Transphobie ist. Ich weiss, dass, wenn ich ein Instrument zur Abschaffung dieser üblen gesellschaftlichen Probleme bin, nicht nur ich, sondern mein Land und die ganze Welt davon profitieren werden.

Das treibt mich erneut an, weiterzumachen. Und wenn jemals wieder ein neuer Wind den gesamten Inhalt meiner Schiefertafel wegweht, habe ich keine Angst mehr.


Nichts kann einen Menschen, der verzweifelt nach Veränderung strebt, aufhalten. Das weiss ich jetzt.


(Übersetzt von Ulrike Ulrich)


Reywynx Reya Morgado erzählt ihre Geschichte auch im Comic «Red Tagging». Er ist unter migrart.ch erhältlich. Bald erscheint auch ihr Buch «Tabula Rasa».

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